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Wie pflegebedürftig ist jemand – und wie viel Geld steht ihm zu? Davon wollen sich die Kassen ein eigenes Bild machen. Deshalb schicken sie einen Gutachter zu Ihnen nachhause. Er stellt Ihnen und Ihrem Angehörigen Fragen, macht sich ein Bild von Einschränkungen und Fähigkeiten und schaut sich Ihre Wohnsituation an. Das nennt sich Pflegebegutachtung.

Ist Ihr Angehöriger gesetzlich versichert, kommt der Medizinische Dienst (MD), früher MDK genannt. Bei privat Versicherten kommt die Firma MEDICPROOF. Beide arbeiten nach denselben Grundsätzen. Die Gutachter sind examinierte Pflegekräfte, manchmal auch Ärzte, kennen sich also mit Pflege gut aus.

Drei bis vier Wochen nach dem Antrag auf Pflegegrad meldet sich ein Gutachter bei Ihnen. Der Besuch wird schriftlich oder telefonisch angekündigt, mit Tag und Zeitfenster. Wenn der Termin für Sie ungünstig ist, sollten Sie ihn telefonisch verschieben. Denn Sie sollten im Vorfeld genug Zeit haben, sich darauf vorzubereiten – und am Tag der Begutachtung die nötige Ruhe.

Viele Angehörige sind vor dem Termin nervös. Verständlich: Denn das Gutachten entscheidet, ob und welchen Pflegegrad Ihr Angehöriger bekommt – und damit auch, wie viel Geld. Machen Sie sich aber nicht zu viele Sorgen. Der Gutachter ist nicht darauf aus, die Pflegebedürftigkeit kleinzureden.

Ich habe mir vor dem Besuch des Medizinischen Dienstes genau aufgeschrieben, wie ein typischer Tag bei uns aussieht und wobei meine Mutter Hilfe braucht – etwa beim Anziehen und Tablettengeben. Wenn so ein Termin ansteht, sollen Pflegebedürftige und ihre Angehörigen keine Angst haben und alles sagen, was sie bedrückt. Wer einen höheren Pflegegrad anstrebt, sollte sich außerdem überlegen, was sich bei der letzten Begutachtung verschlechtert hat. Vor ihrer Operation konnte meine Mutter noch selbst kochen – danach war sie nur noch mit Gehhilfen unterwegs.

Katrin Richter, pflegt ihre Mutter

Das Begutachtungsverfahren

Um jemandem einen Pflegegrad zuzuteilen, interessiert die Gutachter, wie selbstständig jemand ist. Sie schauen sich dafür sechs verschiedene Lebensbereiche an (auch "Module" genannt). Es geht darum, ob sich jemand selbst versorgen kann, ob er mobil ist und sprechen und verstehen kann. Außerdem wird berücksichtigt, ob er unter Ängsten und Aggressionen leidet, seinen Alltag und sein Sozialleben meistern und mit Krankheiten umgehen kann.

Die sechs Module - und typische Beispiele:

1. Bewegung: etwa, wie gut kann der Angehörige Treppen laufen oder sich (mit dem Rollator) in der Wohnung bewegen?

2. Denken und Sprechen: hat ein Mensch Probleme, sich zu orientieren?

3. Verhalten: ist der Angehörige oft traurig, hat er Angst, ist er wütend?

4. Selbst-Versorgung: Kann er sich alleine etwas zu essen machen? Sich selbstständig waschen und anziehen? Aufs Clo gehen?

5. Umgang mit der Krankheit und den Medikamenten: Kann der Angehörige alleine seine Arzneien einnehmen?

6. Den Tag selber planen und mit anderen Menschen in Kontakt treten: wie gut klappt das?

Eine Erläuterung zu den sechs Bereichen in einfacher Sprache finden Sie hier.

Gemessen wird nach einem Punktesystem von 0 bis 100 Punkten. Die Antworten werden gewichtet und zusammengezählt. Nicht alle Lebensbereiche sind gleich wichtig – am wichtigsten ist, ob sich jemand selbst versorgen kann. Ob jemand mobil ist, zählt von den Bereichen am wenigsten. Je mehr Punkte, desto höher der Pflegegrad.

  • Pflegegrad 1: 12,5 bis <27: geringe Beeinträchtigung
  • Pflegegrad 2: 27 bis < 47,5: erhebliche Beeinträchtigungen
  • Pflegegrad 3: 47,5 bis <70: schwere Beeinträchtigungen
  • Pflegegrad 4: 70 bis <90: schwerste Beeinträchtigungen
  • Pflegegrad 5: 90 bis 100: schwerste Beeinträchtigungen, dazu kommen besondere Anforderungen an die Pflege

Vorbereitung auf den Termin

Genug Zeit einplanen
Meistens dauert der Termin eine Stunde. Planen Sie aber viel Zeit ein, falls sich der Gutachter verspätet oder früher vor der Tür steht: sicherheitshalber zwei Stunden für den Termin und jeweils eine Stunde davor und danach.

Unterstützung organisieren
Als Pflegeperson sollten Sie beim Termin dabei sein. Gerne auch eine andere Kontaktperson, wenn sie Ihren Angehörigen in anderen Situationen erlebt, z.B. beim Spazieren oder in der Nacht. Wenn Sie bereits mit einem Pflegedienst zusammenarbeiten: Bitten Sie eine Fachkraft, sich Zeit zu nehmen und mit dem Gutachter darüber sprechen, was an Pflege notwendig ist. So kann der Medizinische Dienst alle Perspektiven berücksichtigen.

Unterlagen zurechtlegen
Legen Sie vorher wichtige Dokumente bereit, am besten in Kopie. Wichtig sind alle Arztberichte: Berichte vom Haus- oder Facharzt, der Entlassungsbericht vom Krankenhaus und eine Übersicht über Medikamente, Therapien und Allergien. Tragen Sie auch sämtliche (Pflege-)Hilfsmittel zusammen. Wenn bereits ein Pflegedienst zu Ihnen kommt, nehmen Sie die Pflegedokumentation und den Vertrag mit dazu. Wenn Sie gegen eine Entscheidung der Pflegekasse Widerspruch eingelegt haben, haben Sie das alte Gutachten und Ihren Widerspruch zur Hand.

Alltag protokollieren
Gehen Sie vorab Ihren Alltag durch. Was fällt Ihrem Angehörigen schwer? Wobei braucht er Hilfe? Was könnte die Situation erleichtern? Machen Sie sich auf einem Blatt Notizen und schreiben Sie ALLES auf, wobei Sie ihm behilflich sind – auch wenn es Ihnen erst einmal banal vorkommt. Zum Beispiel: Mein Vater tropft beim Essen oft auf sein Hemd. Dadurch muss ich ständig seine Kleidung wechseln und Wäsche waschen. Meine Mutter hat nachts Angstzustände und beruhigt sich nur, wenn ich bei ihr sitze. Mein Partner traut sich nicht mehr alleine zu baden, weil er Angst hat zu stürzen - ich selbst kann ihm wegen meines Rückens nicht helfen. Ein Pflegedienst könnte uns entlasten. Tipp: Ein Pflegetagebuch hilft Ihnen beim Dokumentieren. Eine Online-Vorlage zum Ausdrucken finden Sie hier.

Bewertung verstehen
Es hilft, sich klarzumachen, wie der Medizinische Dienst bewertet. Bei der Einteilung in die Pflegegrade geht es in einem Punktesystem darum, wie selbstständig jemand noch ist. Der Gutachter orientiert sich dabei an sechs Kategorien: Wie gut kann sich jemand selbst bewegen? Fällt ihm sprechen und verstehen leicht? Wie verhält er sich? Kann er sich selbst versorgen und gut mit Krankheit und Therapie umgehen? Wie gestaltet er seinen Alltag und seine Beziehungen zu anderen? Gehen Sie die Kategorien anhand Ihrer Notizen über Ihren Alltag durch. Informieren Sie sich vorher in einer Beratungsstelle, z.B. einem Pflegestützpunkt, wenn Sie Fragen haben, sich unsicher sind.

Mit Angehörigem sprechen
Manche bereiten ihre Angehörigen gar nicht auf den Termin vor, damit sie sich keine Sorgen machen. Gislinde Richter vom MDK Bayern hält das für keine gute Idee. "Man sollte offen reden und sagen: Wir haben einen Antrag gestellt, da kommt jemand, der sich in der Pflege auskennt und uns hilft." Wenn Sie glauben, dass die Person nervös reagiert, sagen Sie es ihr vielleicht erst am Abend vor dem Termin statt zwei Wochen vorher.

Ihr Angehöriger hat schon einen Pflegegrad, braucht aber jetzt mehr Pflege als früher? Ein Gutachter kann einen höheren Pflegegrad empfehlen. Besprechen Sie mit ihm, was sich verändert hat. Gab es in der Zwischenzeit eine Erkrankung? Kam sie schleichend oder plötzlich?

Wenn Sie Widerspruch gegen eine Entscheidung der Pflegekasse eingelegt haben, kommt in der Regel ein zweiter Gutachter bei Ihnen vorbei. Schauen Sie gemeinsam das alte Gutachten und Ihr Widerspruchsschreiben an: Hat der erste Gutachter etwas nicht ausreichend berücksichtigt? Wurde vielleicht etwas vergessen oder aus Scham nicht angegeben?

Meine Erfahrung

Tanja Steiner, Pflegeberatung Compass

Was ist ein Pflegegrad?

Wie hilfsbedürftig ist ein Mensch? Das machen die Kranken- und Pflegekassen am Pflegegrad fest. Das müssen Sie wissen zum Artikel

Verhalten während des Besuchs


Alles so machen wie immer
Beim Termin sollen Sie dem Gutachter einen realistischen Einblick in Ihren Alltag geben. Richten Sie den Hilfebedürftigen für den Besuch also nicht extra her – auch das Wohnumfeld sollte so wie immer aussehen. Nach dem Frühstück ist ein Kaffeefleck auf dem Hemd Ihres Angehörigen? Ziehen Sie ihm nicht sofort ein neues an. Es geht nicht darum, zu glänzen, sondern dem Medizinischen Dienst zu zeigen, wie das Leben wirklich aussieht. Nur so bekommen Sie das Geld und die Hilfe, die Ihnen zustehen. Natürlich sollen Sie die Situation auch nicht schlimmer darstellen, als sie ist.

Nicht eingreifen
Der Gutachter stellt Ihrem Angehörigen viele Fragen. Wobei braucht er Hilfe? Was fällt ihm schwer? Vielleicht erzählt Ihr Vater dem Gutachter, dass er wunderbar alleine duschen oder sich anziehen kann und sich problemlos Dinge merkt. Widerstehen Sie dem Impuls, das sofort zu korrigieren. Der Gutachter kennt diese Situation: Gerade demenzkranke Menschen können lange den Schein wahren und ihre Defizite überspielen. Sprechen Sie aber danach unter vier Augen mit dem Gutachter über Ihre Sicht der Dinge. Oder bitten Sie Ihren Angehörigen, eine bestimmte Handlung alleine auszuführen – etwa, sich die Schuhe anzuziehen, mit dem Gehwagen ins Bad zu rollen oder selbstständig zu trinken. Wenn sich die Mutter schwertut, die Kaffeetasse zu sich zu ziehen, helfen Sie ihr nicht sofort. Oft hat man als Angehöriger das Gefühl, einen lieben Menschen damit vorzuführen oder bloßzustellen. Aber nur so kann sich der Gutachter ein realistisches Bild machen.

Unterlagen durchgehen
Werfen Sie immer wieder einen Blick in Ihre Unterlagen, so vergessen Sie im Stress nichts. Am besten gehen Sie gemeinsam mit dem Gutachter Arztberichte, Medikationspläne und Ihre Notizen durch.

Wohnung zeigen
Zeigen Sie dem Gutachter Ihre Wohnsituation. Vermutlich bittet er Sie ohnehin darum. Zum Beispiel den hohen Einstieg in der Dusche oder die steilen Treppen, die Ihre Mutter nur mühsam hochkommt. Der Gutachter kann Ihnen hier auch Tipps geben, welche Hilfsmittel Ihnen den Alltag leichter machen können: z.B. ein Badewannenlifter, ein Rollator oder eine Betterhöhung im Schlafzimmer. Bitten Sie ihn, das in seinem Gutachten zu vermerken. Das gilt dann als Antrag bei der Kasse.

"Erzählen Sie dem Medizinischen Dienst aus Ihrem Alltag. Bei Kindern kann das zum Beispiel sein: Der Vierjährige knallt immer die Flasche auf den Fußboden, weil er nicht versteht, dass er sie auf dem Tisch abstellen soll. Oder der Fünfjährige muss beim Aussteigen aus dem Auto immer herausgehoben werden. Daran werden Entwicklungsverzögerungen deutlich. Manchmal wird das fälschlich von Gutachtern als schlechte Erziehung gedeutet."

Marion Mahnke, Pädagogin und Coach für pflegende Angehörige, Mutter einer Tochter mit Trisomie

So geht es nach dem Termin weiter

Meistens entscheidet der Gutachter noch am selben Tag, welchen Pflegegrad er empfiehlt. Sein Gutachten geht an die Pflegekasse. Die muss sich innerhalb von fünf Wochen, nachdem Sie den Antrag gestellt haben, bei Ihnen melden. Der Bescheid und auch das Gutachten des Medizinischen Dienstes werden Ihnen per Post geschickt.

Sie sind mit dem Pflegegrad nicht einverstanden? Dann können Sie innerhalb eines Monats Widerspruch gegen die Entscheidung einlegen.

Senioren-Paar sitzt mit Dokumenten vor dem Laptop

So können Sie Widerspruch einlegen

Wer eine Entscheidung der Pflegekasse nicht akzeptieren will, ist kein Querulant – sondern oft im Recht. Warum sich ein Widerspruch lohnen kann. zum Artikel

Fachliche Beratung: MD Bayern