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Eine Geburt ist kein Spaziergang, klar. Aber viele Frauen machen ­Erfahrungen, die Grenzen überschreiten. Mindestens jede zehnte, vielleicht sogar jede zweite Frau kommt unter den Wehen in eine Situation, die gewaltsam, manchmal sogar grausam ist. Es geht um verbale, physische und strukturelle Gewalt.

Wir wollten wissen: Was braucht es, damit die Geburtshilfe für Frauen sicherer wird? Wie weit sind wir in Deutschland schon? Über diese Fragen diskutierten mit uns:

Ein typischer Fall von struktureller Gewalt

Katharina Desery: Frau Armbruster, Sie sind heute hier, um Ihre eigene Geburtsgeschichte zu erzählen. Was lief schief?

Vanessa Armbruster: Ich war über Termin und wurde eingeleitet. Etwa zwei Stunden später habe ich sehr starke, regelmäßige Wehen bekommen. Die Hebamme war mir zwar eigentlich sympathisch, aber ich habe sie gar nicht gesehen. Mein Mann und ich wurden sehr viel alleine gelassen. Ich hatte extreme Wehen, aber es ging nichts mehr voran. Nach Stunden haben sich Arzt und Hebamme draußen besprochen, kamen rein und haben mich damit überrumpelt, dass ich jetzt für einen Kaiserschnitt in den OP muss. Zwei Stunden nach der Vollnarkose bin ich wach geworden und habe mich gefühlt, als hätte meine Seele den Körper verlassen. Ich hatte unfassbare Schmerzen und habe die Tage danach nur geweint. Diese Geburt wäre viel besser gelaufen, wenn ich besser betreut worden wäre – da bin ich mir sicher.

Katharina Desery: Das ist ein typischer Fall von struktureller Gewalt: Die Frauen werden in diesem verletzlichen Moment vernachlässigt. Traurigerweise erwarten die Frauen durch den Hebammenmangel schon gar keine Eins-zu-eins-Betreuung mehr. Aber viele sind dann doch überrascht, wie sehr sie eigentlich schon in der Anfangsphase der Geburt eine Begleitung gebraucht hätten.

Clarissa Richter: Es ist ein großes Spannungsfeld für uns Hebammen. Wenn ich Frauen wegschicke, weil ich keinen Platz im Kreißsaal habe, ist das eine Form der strukturellen Gewalt, aber genauso, wenn sie dableiben, ich sie aber nicht optimal betreuen kann. Und wenn Geburtshelfer wegen Personalmangel gestresst sind, kann leider oft als Erstes die Sensibilität gegenüber der Schwangeren verloren gehen: Das Mitnehmen und Erklären, was gerade passiert, aber auch das Entschuldigen, wenn etwas nicht wie geplant läuft, macht einen enormen Unterschied für die Frauen. Die Kommunikation kann entscheiden, ob eine Mutter nach einem Eingriff sagt: „Das war schrecklich!“ oder „Wie gut, dass ihr da wart!“.

Geburtshilfe: Gewalt darf nicht die Norm sein

Katharina Desery: Da vermischt sich dann aber die strukturelle Ebene mit der persönlichen Ebene. Was uns bei der Vereinsarbeit oft begegnet, ist das Unverständnis von Geburtshelfern, dass sie selbst Gewalt angewandt haben.

Wolf Lütje: Aktuell gibt es eine Riesendiskus­sion, ob wir den Begriff Gewalt überhaupt verwenden dürfen. Ich war an einer Broschüre des Gynäkologenverbandes beteiligt. Da war es das Wichtigste, dass nur von Respektlosigkeit gesprochen wird, aber nie von Gewalt. Es gibt eine starke Voreinge­nom­menheit, dass das medizinische Personal ja keine Gewalt ausübt. Von dieser Vorstellung müssen wir erst mal wegkommen.

Clarissa Richter: Genau, erst mal geht es darum, Gewalt als Gewalt anzuerkennen. Das ist so wichtig für die Arbeit mit den Menschen, die einem anvertraut sind. Zum Glück werden Hebammen in der Ausbildung mittlerweile auch geschult, traumasensibel zu arbeiten.

Wolf Lütje: Als Geburtshelfer müssen wir ja auch erst mal alle Formen der Gewalt kennen, um sie zu vermeiden. Ich habe kürzlich 40 Hebammen als Lehrbeauftragter geschult, und jede einzelne konnte beispielsweise berichten, dass sie schon Beteiligungsgewalt ausgeübt habe. Sprich: Sie hat nicht Nein oder Stopp gesagt, als etwas nicht gut lief.

Die Expertinnen und der Experte im Gespräch über das komplexe Thema Gewalt in der Geburtshilfe.

Die Expertinnen und der Experte im Gespräch über das komplexe Thema Gewalt in der Geburtshilfe.

Clarissa Richter: Harte Hierarchien machen es grundsätzlich immer schwerer, anzusprechen, wenn sich jemand im Geburtsteam nicht korrekt verhält. Und auch die Erfahrung spielt mit rein: Nach vielen Jahren im Beruf fällt es deutlich leichter, Nein zu sagen, als als Berufsanfängerin. Letztendlich kommt es immer auf die Kombination von Menschen an, die dann zusammen im Kreißsaal stehen.


Gewalt: Dammschnitt oder Kristeller-Manöver ohne Einwilligung?

Katharina Desery: Und wie diese mit der Patientin umgehen: Es gibt das Patientenrechtegesetz, das natürlich auch in der Geburtshilfe gilt. Die Frau muss also informiert, aufgeklärt und die Einwilligung eingeholt werden, bevor ein Dammschnitt, ein Kristeller-Handgriff oder etwas anderes gemacht wird. Oft heißt es aber, das sei jetzt ein Notfall, da bleibe keine Zeit, alles vorher zu besprechen.

Wolf Lütje: Ja, das kann als Ausrede missbraucht werden. In einer Untersuchung habe ich festgestellt, dass laut Akten bei der Hälfte aller untersuchten Notkaiserschnitte eines Krankenhauses gar kein Notfall vorlag. Die Familien aber in dem Glauben zu lassen, es ginge hier um Leben und Tod – das ist so eine subtile Form der Gewalt, das ist unglaublich.

Der Kristeller-Handgriff dagegen, also der Druck auf den Bauch der Frau von außen, ist das Sinnbild von Gewalt in der Geburtshilfe. Wird er aber gut erklärt und stimmt die Frau zu, nimmt sie ihn vielleicht nicht als gewaltsam wahr. Es kommt also nicht darauf an, was wir machen, sondern wie wir es machen. Und dann gibt es natürlich trotzdem die Notfälle, wo wirklich nicht viel Zeit bleibt, eine Entscheidung zu diskutieren.

Erst mal geht es darum, Gewalt als Gewalt anzuerkennen. Das ist so wichtig für die Arbeit mit den Menschen, die einem anvertraut sind

Häufig wird eine traumatische Geburtserfahrung relativiert

Clarissa Richter: Wir sollten als Geburtshelferinnen und -helfer immer hinterfragen, warum welcher Eingriff gemacht wurde. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass es uns weiterbringt, wenn wir daran arbeiten, uns und unsere Entscheidungen immer wieder zu reflektieren und daraus zu lernen. Eine Geburt bleibt trotzdem immer ein schmaler Grat. Auch wenn es selten vorkommt, kann eine Geburt eine Wendung nehmen, in der sehr schnell ­reagiert werden muss. Deshalb ist die Kom­munikation so wichtig, auch im Nachgang, wenn die Geburt vorbei ist.

Unglückliche Mutter mit Baby

Was bei einem Geburtstrauma helfen kann

Der Gynäkologe und Psychotherapeut Dr. Wolf Lütje hilft Frauen, die die Geburt ihres Kindes als traumatisch erlebt haben. Hier erklärt er, wie es zu einem Geburtstrauma kommen kann zum Artikel

Vanessa Armbruster: Mir ging es auch erst besser, als ich drei Monate nach der Geburt mit einer Psychologin gesprochen habe und mich endlich verstanden fühlte. Ab da ging der Prozess der Heilung für mich los. Davor wurde meine schlimme Geburt immer relativiert.

Katharina Desery:Sei froh, dass du ein gesundes Kind hast“ – das ist immer so der Paradesatz, mit dem Frauen abgespeist werden. Und es ist zwar gut, dass Kliniken auch Nachbespre­chungen anbieten, aber für viele Frauen ist es einfach zu schwierig, wieder an den Ort des Geschehens zu gehen.

Vanessa Armbruster: Ja, genauso war es bei mir auch. Bis heute habe ich mir den Geburtsbericht nicht geben lassen, weil ich nicht noch mal in das Krankenhaus möchte.

Katharina Desery: Wer es schafft, sollte auf jeden Fall noch eine Person mitnehmen. Wichtig ist, dass die Beteiligten sich dann nicht nur rechtfertigen, sondern dass sie es auch zugeben können, wenn etwas nicht gut lief.

Hilfe nach schwieriger Geburt

Für Frauen, die bei der Geburt Gewalt erfahren haben oder aus anderen Gründen traumatisiert sind, kann das Hilfetelefon schwierige Geburt eine erste Anlaufstelle sein. Unter der Nummer 0228/92 95 99 70 sind mittwochs, 12 bis 14 Uhr, und donnerstags, 19 bis 21 Uhr, geschulte Fachberaterinnen zu erreichen. Sie hören zu, unterstützen und helfen – alles streng vertraulich.

Wolf Lütje: Nur in der Geburtshilfe muss man in fünf Minuten 20 Entscheidungen treffen, die in der einen Sekunde richtig und in der nächsten schon wieder falsch sind. Wenn ich das nicht nur danach beurteile, dass am Ende ein gesundes Kind da ist, sondern auch danach, wie die Frau die Geburt erlebt, ist das eine große Herausforderung. Und da gibt es natürlich Fehlentscheidungen. Aber um das standardmäßig besser zu berücksichtigen, müsste in den Krankenhäusern nach ganz anderen Merkmalen untersucht werden, ob eine Geburt gut oder schlecht lief. Wir brauchen neue Qualitätskriterien.

Politik: Gebursthilfe muss besser finanziert werden

Clarissa Richter: Es wird uns weiterbringen, dass die Hebammenausbildung jetzt ein Studium ist. Dadurch wird die wissenschaftliche Forschung um die Hebammenperspektive erweitert. Auf der Grundlage können sich dann zum Beispiel neue Quali­tätskriterien für eine gute Geburt ergeben.

Mir ging es auch erst besser, als ich drei Monate nach der Geburt mit einer Psychologin gesprochen habe und mich endlich verstanden fühlte. Ab da ging der Prozess der Heilung für mich los

Katharina Desery: Mein Eindruck ist außerdem: Durch Frauen, die den Mut haben, ihre Erfahrungen öffentlich zu machen, durch unsere Vereinsarbeit, aber auch durch Hebammen, Ärztinnen und Ärzte, die offen für das Thema sind, wird sich langsam etwas ändern. Die sogenannte Geburtskultur wandelt sich aber nur langsam, und es braucht weiter Eltern, die da rebellisch sind. Auf politischer Ebene müssen wir aber noch die dicken Bretter bohren. Denn die Frauen können erst selbstbestimmter ­gebären, wenn auch die Strukturen dazu geschaffen werden.

Geburtsvorbereitung in der Badewanne

Doula als Geburtsbegleiterin sinnvoll?

Doulas sind eigens geschulte Frauen, die werdende Mütter durch Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett begleiten. Was sie genau tun, was sie kosten und was Hebammen dazu sagen zum Artikel

Wolf Lütje: Es muss einfach sehr viel mehr Geld bereitgestellt werden, da geht es schon los. Ich habe die Vision, dass es in ganz Deutschland Geburtszentren gibt. Egal wo eine Frau wohnt, kann sie in einer halben Stunde ein Zentrum erreichen. Und dort gibt es alles: einen Wellness-Bereich für die Eröffnungsphase der Geburt, ein Geburtshaus für eine hebammengeleitete Geburt, ein Stockwerk drüber aber auch den normalen Kreißsaal, den OP für die Kaiserschnitte und auch die Intensivstation für Neugeborene. Dann könnte sich jede Frau ohne größeres Risiko für die Geburt entscheiden, die sie möchte. Und auch Hebammen und Mediziner hätten viel mehr Flexibilität, auf die Bedürfnisse von Mutter und Kind einzugehen.

Geburt: Die Mutter muss im Mittelpunkt stehen

Katharina Desery: Da wäre berücksichtigt, dass jede Geburt wirklich einzigartig ist. Alles, was individuell wichtig ist, wäre vor Ort.

Clarissa Richter: Zentrum klingt zwar erst mal abschreckend anonym und groß, aber es könnte womöglich genau das leisten. Alles unter ein Dach zu bekommen und die gebärende Person mit ihren individuellen Erwartungen und Bedürfnissen in den Mittelpunkt zu stellen. Die Strukturen müssen sich verbessern. Aber auch als Gesellschaft gibt es noch viel zu tun: Wir sind jetzt hier eine sehr weiße Runde. Beispielsweise eine schwarze Frau oder eine queere Familie erleben noch mal ganz andere Herausforderungen. Wir haben noch eine Strecke vor uns, bis eine gewaltfreie Geburt für wirklich jede Frau zur Normalität wird. Aber ich bin optimistisch!