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Ich pflege

… meine Tochter Johanna, 27. Sie hat eine psychische Erkrankung. Genau gesagt eine Dissoziative Identitätsstörung. Traumatische Erlebnisse in ihrer Kindheit und Jugend haben dazu geführt, dass sich ihre Persönlichkeit in einzelne Anteile aufgespalten hat. Was genau damals passiert ist, weiß ich nicht. Johanna selbst kann sich nur teilweise daran erinnern und sie spricht auch nicht mit mir darüber.

Diese Anteile kommen bei Johanna immer wieder zum Vorschein. Da gibt es die pubertierende 17-Jährige. Da gibt es die Dreijährige. Wenn die die Kontrolle über Johannas Körper hat, hat sie plötzlich den Wortschatz eines Kleinkindes. Für mich sind ihre Persönlichkeitswechsel mittlerweile normal. Wenn man überwunden hat, dass alles spooky und komisch und unerklärlich ist, geht es eigentlich. Für Johanna und auch für mich ist es zum Beispiel entspannend, wenn die Dreijährige da ist, die ist fröhlich und völlig unbeschwert.

Vieles kann solche Episoden auslösen: laute Geräusche, Gerüche, die Öffentlichkeit. Wenn Johanna überfordert ist, bekommt sie im schlimmsten Fall dissoziative Krampfanfälle. Aber leider wirkt sich die psychische Erkrankung auch auf den Körper aus. Johanna kann seit etwa drei Jahren die Beine nicht mehr bewegen, deshalb sitzt sie im Rollstuhl. Außerdem kann sie nicht mehr sprechen. Wir verständigen uns übers Tablet.

Das fällt mir schwer

Ich bin in tausend Kleinigkeiten eingeschränkt. Geräusche und Gerüche können bei Johanna schnell einen Krampfanfall auslösen, vielleicht weil sie sie an traumatische Situationen erinnern. Für mich heißt das: Ich kann nicht das Shampoo verwenden, das ich gerne hätte – es duftet zu stark. Ich kann mir nicht das Essen kochen, das ich möchte. Zum Trinken muss ich in die Küche gehen, weil Johanna das Geräusch nicht aushält, wenn ich schlucke. Was mich am meisten belastet, ist, ständig verfügbar zu sein. Alle vier Stunden muss ich von der Arbeit nachhause, um sie aufs WC zu bringen.

Wir haben viel Schlimmes mit dem Gesundheitssystem erlebt: mit Ämtern, aber auch mit Ärzten. Uns wurde vorgeworfen, gar keine Hilfe zu wollen. Dabei trauen sich viele Pflegedienste die Behandlung nicht zu – Johanna sei ja wie ein rohes Ei. Und als sie in der Psychiatrie war, hat man ihr vorgeworfen, zu simulieren und sich in ihrem Leid zu baden. Johanna hat Mutismus, sie ist also stumm, wegen des Traumas. Deshalb kann sie an Gesprächstherapien nicht teilnehmen. Viele Kliniken sagen dann: Na, wenn sie nicht sprechen kann, können wir nichts machen.

Das gibt mir Kraft

Mein Job bei der Handwerkskammer! Die Arbeit ist für mich Entspannung. Meine Kollegen sind verständnisvoll und kennen meine Situation. Wenn ich mal schlecht gelaunt bin, wissen die, dass es nichts Persönliches ist. Durch Johannas Erkrankung habe ich unglaublich viel gelernt. Ich bin geduldiger geworden, achtsamer, aufmerksamer. Auch im Job: Ich kann mit Stresssituationen besser umgehen. Was mir noch hilft: Ich habe endlich eine gute Psychotherapeutin gefunden, mit der ich telefonieren kann. Wir sind auf einer Wellenlänge, und das tut mir gut.

Mein Tipp für andere

Geht offen mit der Erkrankung um. Dass meine Tochter psychisch krank ist, erzähl ich so wie, dass ich letzte Woche im Kino war. Und wenn man mich fragt, wie es mir geht, dann sag ich auch mal: Mies. Es hilft nichts, das zu verschweigen oder Ausreden zu erfinden, warum ich alle vier Stunden nach Hause muss. Im Job wissen alle: Johanna hat einen speziellen Klingelton. Wenn es klingelt, steh ich auf und geh, egal, wo ich gerade bin. Das Tabu "über sowas spricht man nicht" ist mir egal. Und Stigmatisierung durch Mitmenschen haben wir bisher nicht erlebt.

Johanna schreibt einen Blog über ihre Erkrankung: "Wirrwege". Gemeinsam mit ihrer Mutter versucht sie, eine Pflege-WG für traumatisierte Frauen auf die Beine zu stellen.