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Frau Sarripapazidis, von der OP-Narbe bis zum Rollstuhl: Warum ist es wichtig, dass es Puppen mit Handicap gibt?

Kinder mit einer Behinderung sehen dann: Hey, da ist jemand so wie ich! Es ist okay, so wie ich bin. Das hilft ihnen, sich mit ihrem Hilfsmittel anzufreunden und mehr Selbstbewusstsein zu entwickeln. Von einer Familie habe ich gehört, dass ein Mädchen ihre Orthesen immer gehasst hat. Als ihre Puppe da war, hat sie die Schienen plötzlich wie selbstverständlich angezogen.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Puppen mit Handicap zu nähen?

Ich habe als Tagesmutter ein schwer behindertes Kind betreut. Mir fiel auf, dass es in Spielwarengeschäften nur perfekte Figuren gab – Puppen mit Einschränkungen oder Behinderung fehlten.

Und dann haben Sie gleich angefangen, die Puppen zu fertigen?

Nein, erst habe ich mit etwas Praktischerem begonnen. Denn ich hatte ebenso festgestellt, dass sich die meiste Kleidung nicht für ein Kind mit Magensonde eignet. Deshalb habe ich mir eine Nähmaschine ausgeliehen und experimentiert. Ich habe einen Sondenbody genäht, mit einer Öffnung unten im Windelbereich und einer Knopfleiste über dem Bauch. Zwei Laschen halfen dabei, die Sonde besser zu verstauen und leichter zu reinigen. Und fertig. Dabei konnte ich vorher kaum einen Knopf annähen!

Nicole Sarripapazidis aus Grafhorst entwirft und fertigt Puppen mit Handicap. Sie wurde für ihre Idee mit dem Innovationspreis Göttingen 2018 ausgezeichnet.

Wie haben Sie das hingekriegt?

Ich habe mir das Nähen selbst beigebracht. Auf Facebook habe ich mir in Nähgruppen Tipps und Infos geholt. Beim Üben habe ich zuerst meine ganze Familie mit Kleidungsstücken eingedeckt, sogar unsere Haustiere haben eine Schlafdecke bekommen. Irgendwann bin ich dann bei bunten Rucksäcken aus Kinderstoff angelangt, die ich für die Nahrungsbeutel meines Tageskindes genäht habe. Da dachte ich mir: Jetzt traue ich mich auch an die Puppen heran.

Worauf achten Sie beim Nähen der Puppen?

Ich bemühe mich, dass die Puppen dem Kind möglichst ähnlich sind. Manche haben Operationsnarben, manche sitzen im Rollstuhl, andere wiederum tragen wegen einer Fehlbildung Orthesen. Von den Eltern lasse ich mir genau beschreiben, wie die Kinder aussehen. Oft verwende ich zu klein gewordene Kleidung von ihnen. Es ist schon ein unglaubliches Gefühl, so etwas zu erschaffen!

Wie gestalten sich die Kontakte mit den Familien, die auf Sie zukommen?

Manche Eltern schreiben mir nur eine kurze Mail, andere schildern mir ihre halbe Lebensgeschichte. Es ist schön, den Familien zu helfen. Außenstehende mögen vielleicht denken, dass deren Leben traurig ist – und natürlich ist vieles schwierig, zum Beispiel die Bürokratie oder der Kampf um Hilfsmittel. Aber die Familien strahlen oft so eine Lebensfreude aus. Und die Kinder sind Superhelden, richtige kleine Kämpfer.

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Eine Puppe kostet 300 bis 350 Euro. Ist das nicht vielen Familien zu teuer?

Ja, aber es ist eben Handarbeit. Und ich biete Puppen-Patenschaften für diejenigen an, die sich das nicht leis-ten können. Wer das Projekt unterstützen möchte, kann sich an den Kosten beteiligen. Es haben sich schon eine Reihe von Paten gemeldet. So können bedürftige Familien kostenlos eine Puppe erhalten.

Haben auch Kindergärten Ihre Puppen schon genutzt?

Bislang noch nicht, aber das würde ich mir wünschen. Die Puppen könnten Aufklärung leisten – zum Beispiel in Kindergärten und Kitas, Schulen und Therapiezentren. Ich würde diese Einrichtungen irgendwann mal gerne mit den Puppen besuchen. Es ist gut, wenn Kinder schon früh lernen, dass es Menschen mit Handicap gibt und dass sie genauso zur Gesellschaft dazugehören. Und: Dass eben nicht immer alles perfekt und dass niemand makellos ist. So würden auch viele Berührungsängste abgebaut! Ich könnte mir auch vorstellen, dass die Puppen im Krankenhaus zum Einsatz kommen. Eine Kinderklinik aus Bayern hat schon mehrere Bestellungen bei mir aufgegeben, damit meine Puppen die kranken Kinder auf andere Gedanken bringen.

Vom Rollstuhl bis zur Beatmungskanüle arbeiten Sie mit ganz unterschiedlichen Hilfsmitteln. Wie machen Sie das?

Ich habe mehr als 20 Jahre als medizinische Fachangestellte gearbeitet, das hilft. Ich frage im Fachhandel bei verschiedenen Firmen an, damit ich möglichst realistische Produkte verwenden kann – oder zumindest Nachbildungen.

Bei dem Mini-Zubehör klingt das nach einem ziemlichen Gefummel.

Ja, manchmal schon. Am schwierigsten war bisher eine Puppe für ein gehörloses Kind. Ich wollte gerne mit Original-Cochlea-Implantaten arbeiten.

Die ließen sich aber nicht anbringen, auch Zubehörteile aus Fimo fielen wieder ab. Zum Schluss habe ich die Implantate aus Stoff gefertigt und mit Schafwolle gefüllt. Das war eine Katastrophe, weil es ewig gedauert hat und es viele Rückschläge gab – aber es war auch eine schöne Erfahrung. Die Puppe ist zum Glück noch rechtzeitig zum Geburtstag angekommen.

Sind Sie dabei, wenn die Kinder ihre Puppe überreicht bekommen?

Meistens nicht, aber die Eltern schicken mir Fotos und Videos. Das Tollste war, als ich einem Neunjährigen mit spastischer Lähmung eine Puppe mit Orthesen übergeben durfte. Er ist Fan einer Eishockeymannschaft, deshalb haben wir das in einer Eissporthalle organisiert. Er war sprachlos und hat sich riesig gefreut. Die Mutter schrieb mir später, dass er abends einmal zu seiner Puppe gesagt hat: Ich bin stolz auf dich. Und damit meint er ja eigentlich: Ich bin stolz auf mich selbst.

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