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Frau Hayder-Beichel, niemand schämt sich gerne. Wären wir ohne dieses Gefühl nicht besser dran?

Scham ist an sich eine gute Sache. Sie ist sozusagen die Wächterin über unsere Privatheit. Und sie hält unsere Gesellschaft zusammen. Denn Scham definiert ganz klar: Was ist dem anderen zuzumuten, und was will ich selbst vor anderen schützen.

Deshalb gehen wir heute auch nicht mehr nackt durch die Welt – weil wir wissen, dass wir gesellschaftliche Regeln haben, an die wir uns halten müssen.

Wer legt diese Regeln fest?

Sie werden uns schon von Kindheit an beigebracht, zum Beispiel durch die Sauberkeitserziehung. Beim Gang zur Toilette spielt es für das Kind ­­irgendwann eine Rolle, die Tür zu schließen: weil es feststellt, dass es seinen eigenen Körper und sein ­eigenes Selbst hat und beides in bestimmten Situationen für sich behalten möchte.

Aber in der Pflege muss man das alles wieder aufgeben.

Genau. Man lernt über Jahre, wie man sich gesellschaftlich konform verhält. Dann lebt man sein ganzes Leben  danach – und irgendwann kommt der Moment, wenn jemand pflegebedürftig wird und man von all diesen gelernten Normen wieder Abstand nehmen muss. Das fällt natürlich sehr schwer. Man stolpert im Alltag über die Konventionen und fragt sich, wie man damit umgehen soll.

Wie Angehörige aus der Scham helfen können

  • Offen das Problem ansprechen. Aber nur, wenn Ihre Beziehung zu dem Veschämten gut ist. Sonst führen Sie ihn nur noch weiter vor. Fühlen sie vor, wann eine gute Zeit für das Gespräch ist. Seien Sie behutsam.
  • Normalisieren Sie die Situation. Erzählen Sie von sich. Auch Sie haben schon peinliche Situationen erlebt. Signalisieren Sie, dass Sie wissen, wie es Ihrem Gegenüber jetzt geht.
  • Holen Sie jemand anderen ins Boot. Überlegen Sie, wer das sein kann. Oft kann eine neutrale Person, wie etwa der Arzt oder Pastor besser helfen.
  • Tipps für die Pflege: Achten Sie darauf, dass Sie den Kranken nur so weit entblößen, wie nötig. Achten Sie darauf, dass die Tür beim Waschen zu ist. Stellen Sie Duftlämpchen bei der Großen Toilette auf. Lassen Sie den Pflegebedürftigen alles selbst noch tun, was er noch kann - vor allem, wenn jemand aggressiv jede Pflegehandlung ablehnt.

Und wie geht man damit um?

Es ist letztendlich ein Abstimmungsprozess zwischen dem, der pflegt, und dem Pflegebedürftigen. Das läuft aber schnell schief. Zum Beispiel wenn der zu Pflegende mitbekommt, dass er sich körperlich entblößen muss. Wenn dann beide schweigen – was oft der Fall ist in solchen Situa­tionen – kann das leicht zu Missverständnissen führen.

Der Pflege­bedürftige will sich vielleicht gar nicht entblößen und versucht sich mit seinen Kleidern, seinem Bettzeug wieder zuzudecken. Der Angehörige aber nimmt das Verhalten als Ärgernis wahr. Dabei geht es dem Pflegebedürftigen nur darum, sich zu schützen.

Wie erkennt man Scham, wenn sich die Person nicht erklären kann?

Es kann sein, dass sich der Pflegebedürftige zurückziehen möchte. Scham kann Fluchtreflexe auslösen, Wut und Angst hervorbringen. Die Betroffenen können auch erröten, schwitzen, ­­weinen, zittern oder nervös wirken. Auch Tritte und Schläge sind keine Seltenheit, wenn etwas als zu übergriffig empfunden wird.

Die Ange­hörigen verstehen das vielleicht zunächst nicht, weil sie ja eigentlich nur etwas Gutes tun wollen. Dabei ist es wichtig, die Scham als solche zu erkennen, um darauf angemessen zu reagieren.

Wie reagiert man auf Scham?

Bei Menschen mit Demenz hängt das davon ab, wie zugänglich eine Person noch ist. Wenn ich im Vorfeld sage "Ich möchte dich jetzt ausziehen und dann möchte ich dich waschen", ist das gut. Aber es kann auch sein, dass der andere das gar nicht versteht.

Wir haben in dieser Gene­ration zudem viele Personen, die traumatische Kriegsereignisse erlebt haben. Diese Erfahrungen können in der Pflege hochkommen. Wenn jemand nicht mehr in der Lage ist, das mitzuteilen, ist der Pflegende gefragt, das zu erkennen.

Und wie geht man mit Scham um, wenn der Pflegebedürftige geistig fit ist und sich mitteilen kann?

Da ist es tatsächlich sehr gut, wenn man einfach darüber spricht. Ich hatte zum Beispiel mal eine Enkelin bei mir, die ihren Opa intim pflegen sollte und damit große Probleme hatte.

Darauf angesprochen, gab der Opa ein ruppiges "Ach komm, das schaffen wir schon" von sich – und dann hat es geklappt. Denn die Enkelin wusste, für ihren Opa ist das auszuhalten. Häufig schwirrt uns bei dieser Schamproblematik ja im Kopf herum, wie es für den anderen wohl ist. Gut ist zudem Humor. 

Wieso?

Er kann Barrieren abbauen. Aber kein plumper Humor, sondern ein sensibles Aufnehmen der Situation. Das gemeinsame Lachen verbindet. Denn derjenige, der Scham erlebt, hat in dem Moment das Gefühl, dass er der Einzige auf der Welt ist, der das durchleben muss. Die Scham grenzt ihn von allen anderen ab, er ist bloßgestellt.

Gemeinsames Lachen holt den Betroffenen aus diesem einsamen Gefühl heraus. Man erlebt die Situation zusammen, die Scham ist nicht mehr so stark. Humor kann Brücken bauen.

Aber was, wenn ich selbst Probleme damit habe, meine Mutter zu pflegen, mir das peinlich ist?

Solche Rollenveränderungen sind natürlich sehr schwierig. Sie können auf beiden Seiten Scham, Schuldgefühle, Trauer und Wut auslösen – zum Beispiel bei Kindern, weil sie ihre Eltern zum ersten Mal hilfebedürftig erleben, und bei Eltern, die sich schuldig fühlen, weil sie glauben, ihren Kindern zur Last zu fallen.

Auch hier hilft es, darüber zu sprechen – und sich abzusprechen. Wenn man als Tochter zum Beispiel nicht den Vater intim pflegen möchte, kann das ja vielleicht der Bruder übernehmen.

Darf ich als Angehöriger auch meine Grenzen haben?

Absolut. Man kann nicht von jedem erwarten, dass er dazu bereit ist, diese Aufgaben zu erfüllen. An dieser Stelle sollte man sich einen Pflegedienst ins Haus holen. Denn Scham kann für beide Seiten belastend sein, das darf man nicht unterschätzen. Da ist es besser, wenn Sie sich von Pflegepersonal helfen lassen.