Logo der Apotheken Umschau

Endlich diesen dummen Streit beenden, über die alte Kränkung hinwegkommen – der Wunsch ist da, aber wie schafft man es, auf den anderen zuzugehen?

Für die Psychologin Beate Weingardt spielt sich Verzeihen vor allem in uns selbst ab. Wie soll ich damit umgehen?, fragt sich die Frau, deren Mutter der anderen Tochter den Löwenanteil des Erbes versprochen hat. Wie konnte sie mir das nur antun?, überlegt ein Mann, dessen Partnerin sich im hohen Alter von ihm getrennt hat. Es geht doch nicht, dass ich als Oma nicht zur Einschulungsfeier einge­laden werde, beklagt sich eine Dritte.

"Wenn wir schmollen, sägen wir an dem Ast, auf dem wir sitzen"

Regelmäßig hält Weingardt Seminare über das "Vergeben" ab. Wenn alle Teilnehmer gesprochen haben und die emotional aufgeheizte Stimmung im Seminarraum sich langsam wieder legt, sagt die Tübinger Diplom-Psychologin und Beraterin etwas Erstaunliches. Es mag sein, dass man sich im Recht fühlt, dass man Ansprüche hat oder zu haben glaubt. Was aber bringt es, in diese Richtung weiterzudenken? Die Frau mit dem vorenthaltenen Erbe gibt zu, die Demütigung zermürbe sie. Bei jedem Familientreffen, jedem Kontakt mit der Mutter koche alles wieder hoch. Die Großmutter, die nicht zur Einschulung kommen soll, hat sich insgeheim schon innerlich zurechtgelegt, was sie sagen wird, wenn sie die Familie der Tochter das nächste Mal wieder trifft: Schön, euch wiederzusehen. Natürlich mit betont beleidigtem Unterton.

Und dann? Die Begegnung wird mit hoher Wahrscheinlichkeit belastet sein, gibt Weingardt zu bedenken. "Wenn wir schmollen, sägen wir an dem Ast, auf dem wir sitzen." Da wünscht man sich ein schönes Verhältnis, möchte den Enkel gern öfter sehen. Aber wird dessen Mutter unter diesen Umständen Lust haben, sich dafür starkzumachen?

Bei einer Kränkung die Perspektive wechseln

Ein Perspektivenwechsel im Denken bietet dagegen zumindest eine Chance auf Annäherung. Was könnte die Familie zur Entscheidung in Sachen Einschulung bewogen haben? Vielleicht, dass Einschulungsfeiern inzwischen richtiggehende Großveranstaltungen sind und Schulen bereits Vorgaben in Sachen Besucherzahlen machen, weil sonst die Räumlichkeiten nicht ausreichen? Vielleicht, und das wäre natürlich bitter, ist die Oma ja tatsächlich nicht so willkommen, wie sie es gern hätte. "Dennoch", sagt Weingardt, "wer in einer solchen Situation Ansprüche betont, macht die Sache nur schlimmer."

Selbst im Fall der enterbten Tochter ist das so. Sie kann sich zwar anwaltlich beraten, ihre Ansprüche prüfen lassen. Wenn da aber nichts zu machen ist und sie dennoch auf ihrem Standpunkt verharrt, setzt sie eine problematische Gefühlsspirale in Gang.

Wut schadet uns selbst

Wer sagt denn, dass der Groll, der ja eigentlich gegen den anderen gerichtet ist, auch dort ankommt? Tatsächlich, weiß Weingardt, ist oft das Gegenteil der Fall: Die ausgesendete Wut prallt ab beziehungsweise bleibt von vornherein da, wo sie entstanden ist: bei uns selbst.

"Verzeihen ist so gesehen zunächst vor allem eine selbstschützende Maßnahme", sagt Beate Weingardt. Und das ist die gute Nachricht: Wir brauchen den, der uns wehgetan hat, dafür nicht. Wir können es ganz aus uns heraus und für uns selbst tun. Und wir können spüren, wie wir dadurch innerlich frei werden. Um dann, aus einer veränderten Haltung, auf den anderen zuzugehen?

Das Geschehene akzeptieren

Hier warnt die Psychologin vor allzu großen Erwartungen. Ohnehin sind für sie Verzeihen und Versöhnen zwei paar Stiefel. "Dass beide Seiten vom eigenen Standpunkt abrücken, die andere Seite zu verstehen versuchen und dann aufein­ander zugehen, ist etwas vergleichsweise Seltenes und lässt sich nicht erzwingen." Manche Menschen warten jahrelang auf dieses Geschenk, weiß Weingardt. Sie schmollen, vergiften sich durch ihre Erwartungshaltung kostbare Lebenszeit. Wer dagegen den Perspektivenwechsel schaffe, trage aus sich selbst heraus zur Lösung bei.

So wie der Seminarteilnehmer, der am Ende sagen konnte: Dass sie mich verlassen hat, lag weniger daran, dass sie nicht bei mir bleiben wollte. Sondern daran, dass sie es nicht konnte.

Alternative zum Schmollen

Zu erkennen, wie Menschen Gefangene der Erfahrungen sind, die sie geformt haben – auch das kann Verzeihen sein. Manches nimmt man dann nicht mehr so persönlich und sucht nach Alternativen, um die erfahrene Zurückweisung zu verkraften. Wie im Fall der nicht eingeladenen Großmutter, die beschließt, am Tag der Einschulung eine lange nicht gesehene Bekannte zu besuchen – statt geknickt zu Hause zu hocken.

Denn tief drinnen spürt sie, dass es an ihr selbst liegt, ob sie wirklich versöhnt sein will mit dem, wie es ist. Und dann, wenn sie das geschafft hat, vielleicht auch mit dem anderen.