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"Wann haben Sie zuletzt ein Bild gemalt?" Diese Frage hat den Bundesbürgern noch kein Meinungsforscher gestellt. Täte es einer, lautete die Antwort in vielen Fällen vermutlich so: "Vor Jahren. Oder sind es Jahrzehnte?"

Kinder haben eine blühende Fantasie und lieben oft nichts mehr als kreatives Werkeln. Im Laufe des Lebens geht diese Gabe verloren, bedauert der Frankfurter Psychiatrie-Professor Johannes Pantel. Erst fordern Beruf und Alltag ihren Tribut, später melden sich die Zipperlein des Alters – da erscheinen künstlerische Hobbys und fantasievolles Spiel leicht als entbehrlicher Luxus. Und sind doch nichts weniger als das.

Ins Atelier statt zum Arzt

Ob Malerei oder Handarbeit, Musik oder Fotografie: "Kreative Beschäftigung ist nicht nur bereichernd, sie kann auch ein Begleiter auf dem Weg eines gesunden und guten Alterns sein", ist Pantel überzeugt. Etliche Studien unterstreichen diesen Satz. Bei einem Experiment in den USA  etwa veranstalteten Forscher Kunstkurse für Spätzünder. In der Folge gingen die beteiligten Senioren seltener zum Arzt, brauchten weniger Medikamente und fühlten sich insgesamt gesünder. Singen im Chor stärkt das Selbstvertrauen von Oldies, ergab ein anderes Forschungsprojekt. 2015 bilanzierten Forscher die Studien­lage zum Stricken. Von kraus rechts bis Zopf: Wer regelmäßig strickt, ist besser drauf, leidet seltener an Depressionen und ist geistig fitter.

Kreativität ist anregend und beglückend

Was macht die Kraft der Kreativität aus? Man schafft ein Werk, gleich ob es sich um Hausmusik zum Advent oder Plastelandschaften für die Modellbahn handelt. "Die Erfahrung, schöpferisch zu sein, wirkt ebenso anregend wie beglückend", erklärt Professor Andreas Kruse, Alternsforscher an der Universität Heidelberg.

Aber auch das bloße Tun bereitet Freude, weiß Dr. Franz Pfitzer. Kreative Beschäftigungen schlagen eine Brücke zwischen unserer linken Hirnhälfte, der Heimat des nüchternen Verstands, und der gegenüberliegenden Seite, die als Quelle von Gefühlen und Ideen gilt.

Erfolge bei chronischen Schmerzen

Pfitzer, Chef der Psychosomatik an der Simssee Klinik im bayerischen Bad Endorf, sieht darin eine höchst wirksame Therapie. Beispiel Depression: "Der Patient sieht, da ist doch noch was an Farbe und Lebendigkeit in mir. Da entsteht nicht nur Schwarz auf dem Bild!"

Neue Seiten an sich entdecken, den Blick von Kummer und Bedrängnis auf die eigenen Stärken lenken, die innere Starre lösen. Das kommt auch Kranken mit chronischen Schmerzen zugute, beobachtet Experte Pfitzer. "Statt eines Gefühls nehmen die Betroffenen oft nur noch den Schmerz wahr." Kreative Therapien seien ideal, um die Fehlschaltung zu korrigieren.

Mit der Schneekönigin gegen Kreuzweh

Simone Klees kann das bestätigen. Die Theatertherapeutin bringt Schmerzpatienten auf die Bühne eines Übungsraums der Bremer Paracelsus-Klinik. Ob die ungewöhnliche Behandlung anschlägt, soll eine Studie klären, die bisherigen Erfahrungen stimmen Klees aber zuversichtlich. "Theater spielen öffnet eine zusätzliche Wirklichkeit, in der man in eine andere Rolle schlüpfen kann." Die Schmerzpatientin gibt die Schneekönigin – allein das ändert viel. Wer von den Kranken gerade nicht auf der Bühne steht, wird zum Zuschauer: Wie bei anderen kreativen Betätigungen braucht es für Erfolgsgefühle auch ein Publikum.

Kaum ein Patient bringe Erfahrung in Schauspielerei mit, sagt Klees. Anfangs gebe es auch Vorbehalte: "Was hat Theater mit meinem Kreuzweh zu tun!" Doch wer einmal in seine Rolle finde, könne die Schmerzen oft ausblenden. Dabei tun sich Ältere mit dem Spiel teilweise leichter als Jüngere. "Sie sind gelassener und haben mehr Abstand zum leistungsorientierten Arbeitsalltag", so Klees.

Reife Leistungen

Überhaupt scheinen die späten Jahre eine gute Zeit im Leben zu sein, um die künstlerische Ader (neu) zu entdecken. "Verstand und Gefühl schmelzen im Alter stärker zusammen", berichtet Gerontologe Andreas Kruse aus der Hirnforschung. "Das kann kreative Leistungen begünstigen." Auf jeden Fall seien Senioren nicht weniger schöpferisch als andere Altersklassen – die Lust am Querdenken sei oft sogar größer.

Wer die 60 hinter sich gelassen hat, weiß längst, dass das Leben selten einem Plan folgt. Auch diese Erkenntnis hilft der Kreativität auf die Sprünge. Peter Diedenhofen wundert es daher nicht, dass viele seiner Schüler im Rentenalter sind. In seinem Atelier im schwäbischen Neckartenzlingen unterrichtet der Kunsttherapeut Bildhauerei. Wer eine Skulptur forme, könne gar nicht anders, als seine Schöpfung aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. "Ein 360-Grad-Blick auf das Leben, der die Weisheit des Alters spiegelt", drückt es Diedenhofen aus.

Wenn im Laufe der Jahre die Kräfte nachlassen und das Gedächtnis nicht mehr so will, gewinnen Kunst und Kreativität eher noch an Bedeutung. Der Berliner Kunsttherapeut Jörg Frey leitet seit mehr als zehn Jahren Malgruppen in Pflegeheimen. Mancher Teilnehmer ist älter als 100. Die Hände zittern? "Das ist menschlich, das macht Ihr Bild so einzig", ermuntert Frey in solchen Fällen.

Anregungen von alten Meistern

Demenzkranke Menschen sind für kreative Impulse besonders dankbar. "Während die Sprache früh schwindet, bleiben Gefühle, Intuition und handwerkliches Können lange erhalten", erklärt Psychiater Johannes Pantel. Dass im Alltag immer weniger klappt, setzt den Patienten häufig zu. Ein künstlerisches Hobby kann positive Erfahrungen dagegensetzen.

Vor kurzem stellte Pantel die Ergebnisse einer Studie im Frankfurter Städel-Museum vor. Demenzkranke und ihre Angehörigen hatten Führungen durch das renommierte Kunstmuseum bekommen – und anschließend die Gelegenheit, selbst aktiv zu werden. "Wohlbefinden und Stimmung der Patienten verbesserten sich messbar", berichtet Pantel. Noch mehr als über solche Daten freut sich der Experte über eine häufig geäußerte Rückfrage der Teilnehmer: "Wann machen wir weiter?"

Tipps für alle, die künstlerisch aktiv werden wollen

1. Einfach anfangen

Viele sind zunächst blockiert, wenn sie ein leeres Blatt vor sich haben. Kunsttherapeuten arbeiten gerne mit kleinen Übungen, um ihre Teilnehmer aus der Reserve zu locken und ihnen den Leistungsdruck zu nehmen. Zum Beispiel: Minutenbilder, die in 60 Sekunden fertig sein sollen – da bleibt keine Zeit, groß zu überlegen. Oder Malen mit zwei oder drei Nassfarben, die auf dem Papier zerlaufen – und sich jeglicher Kontrolle entziehen.

Bewährt hat sich auch, mit der eigenen Unterschrift zu spielen: mal groß, mal klein, mal bunt, mal mit Hintergrund. Noch ein Trick: das Papier falten, in farbige Tinte tunken und wieder auseinander­nehmen – das Ergebnis ist garantiert Zufall!    

2. Offen sein

Spontanität ist gut, aber man braucht auch Ideen. Woher nehmen? Meist hilft es, in der Natur spazieren zu gehen und auf Empfang zu schalten. Was für Formen und Muster finden sich im Herbstlaub? Wie fühlt sich der Feldstein an? Welche Gestalt haben die Wolken? Die Forschung hat herausgefunden, dass der kreative Funke am ehesten überspringt, wenn viele Sinneseindrücke zusammenkommen – sofern man sie bewusst wahrnimmt. 

3. Sich Zeit nehmen

Musen mögen Muße. Wer sich unter Druck setzt, wird mit seinem künstlerischen Hobby kaum glücklich werden. Vergisst man dagegen beim Schnitzen, Töpfern oder Basteln die Zeit, ist das in jedem Fall ein gutes Zeichen!

4. Auf Zimmersuche gehen 

Wer künstlerisch kreativ werden will, braucht Platz. Ideal ist ein eigener Raum, etwa ein Kinderzimmer, das heute nur selten als Gästeunterkunft genutzt wird. Wenn zu Hause nichts geht: nach "offenen Ateliers" von Künstlern fragen, Volkshochschulkurs belegen oder eine "Malgemeinschaft" mit Gleichgesinnten suchen.