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"Na, versteht ihr euch immer noch? Oder geht ihr euch schon auf die Nerven?" Solche Fragen von Nachbarn und Bekannten, in denen sich Neugier, Argwohn und ein bisschen Spott mischen, gibt es immer mal wieder. "Aber nicht mehr so häufig wie in der Anfangszeit", erzählt Elke Raddatz. Das war im Jahr 2007, als die inzwischen 56-Jährige mit ihrem Mann, einem weiteren Ehepaar sowie zwei alleinstehenden Senioren in das große Haus an der Dorfstraße 52 einzogen. Gebaut 1902, hatte dieses Gebäude bis in die 70er-Jahre hinein das Einzelhandelsgeschäft des Ortes beherbergt. Danach war es privat bewohnt worden; zuletzt hatte das Haus (330 Quadratmeter Wohnfläche, 1300 Quadratmeter Grundstück) einige Zeit leer gestanden.

Und nun: Sechs muntere ältere Damen und Herren gemeinsam unter diesem Dach? In Großstädten wie München oder Berlin mag es ja derlei Wohnexperimente geben. Aber in Neuenkirchen, dem 800-Seelen-Dorf gleich hinterm Elbdeich, 60 Kilometer von Hamburg entfernt? Wo jeder jeden kennt, wo man gemeinsam Geburtstage und Hochzeiten feiert und zusammen den Lebensabend meistert. Eine Alten-Kommune? "Afsünnerlich", sagt man hier auf Plattdeutsch. Zu deutsch: merkwürdig. "So ganz geheuer ist das manch einem im Ort noch immer nicht", weiß Mitbewohnerin Angelika Stier, mit 53 Jahren jüngstes WG-Mitglied. Vertreter regionaler Zeitungen kamen schon vorbei, um über die Angelegenheit zu berichten, ebenso ein privater Fernsehsender. Die Wohngemeinschaft bietet Gesprächsstoff.

Fünf Mitglieder des Teams haben sich an diesem Abend am ovalen Esstisch im Gemeinschaftsraum zusammengesetzt, gleich gegenüber dem hohen grünen Kachelofen. Einer fehlt: Gunther Raddatz, der zur Reha-Kur ist. In einer Ecke des Zimmers steht eine Spielzeugkiste mit Duplo-Steinen und Kinderbüchern. "Für unsere Enkel", sagt Elke Raddatz. Sie kommen liebend gern zu Besuch. Auf der anderen Seite ist die Bibliothek, in den dunkelbraunen Bücherregalen finden sich die literarischen Schätze aus ehemals vier Einzelhaushalten. Ein gemütlicher Raum mit schweren Möbeln und weichem Licht, in dem einmal im Monat die WG ihre Vollversammlung abhält, um Organisatorisches und Alltägliches zu klären. Wie es mit dem Innenhof, der noch nicht fertig gestaltet ist, weitergehen soll. Dass die Haustür quietscht, die Hofbeleuchtung nicht funktioniert. Wer alles zum Gänse-Essen kommen wird.

"Rund die Hälfte der Menschen über 50 hat Interesse daran, im Alter mit anderen zusammen zu wohnen", schreibt das Bundesfamilienministerium auf seiner Homepage im Internet. Laut einer Forsa-Umfrage sind 64 Prozent der über 60-Jährigen der Meinung, es sollte auch Wohngemeinschaften für nicht mehr ganz junge Menschen geben. Und immerhin 18 Prozent können sich vorstellen, selbst in einer Wohngemeinschaft zu leben. So wie der frühere Bremer Bürgermeister Henning Scherf, der vor mehr als 20 Jahren in einem Haus in der Bremer Altstadt mit acht Leuten eine Alten-WG gründete. Über seine Erfahrungen berichtet der jetzt 73-jährige Kommunarde in seinem Buch "Grau ist bunt. Was im Alter möglich ist"

Von der Idee zur Tat ist es allerdings in den meisten Fällen ein weiter Weg, die Suche nach geeigneten Mitbewohnern und dem passenden Domizil ist mühselig. Zahlreiche Internetplattformen offerieren mittlerweile ihre Unterstützung bei der Vermittlung. Bund und Länder, aber auch Stiftungen bieten Informationsmaterial, rechtliche Tipps, Vermittlung und finanzielle Förderung beim Bau von Senioren-Wohnprojekten an. Zwar lebt mit 93 Prozent das Gros der älteren Menschen nach wie vor in der eigenen Wohnung. Doch Senioren-WGs wie die in Neuenkirchen dürften in Zukunft zahlreicher werden. Der demografische Wandel ist in vollem Gange, der Bevölkerungsanteil der älteren Menschen steigt rasant an. Städte und Kommunen haben die Bedeutung alternativer Wohnformen für Senioren erkannt. In Hamburg beispielsweise unterstützt eine städtische Koordinierungsstelle für Wohn-Pflege-Gemeinschaften pflegebedürftige Senioren bei der Suche nach einer passenden Wohngemeinschaft.

Sie haben sich ihren Traum erfüllt, berichten die WG-Mitglieder aus Neuenkirchen. Man kennt sich von Kindesbeinen an, ist in dieselbe Schule gegangen, hat später jahrzehntelang im Kegelclub die Kugel geschoben. "Schon vor 20 Jahren haben wir gesagt: Wenn wir mal alt sind, ziehen wir alle zusammen in ein großes Haus", erinnert sich die 63-jährige Christa Dammann. Die Idee hielt sich hartnäckig in den Köpfen, über all die Jahre. Bis die Kinder nach und nach aus dem Haus gingen und irgendwann die Zeit reif war zum Handeln.

Bei der Suche nach einem geeigneten Haus erinnerte man sich an den alten Krämerladen in der Dorfstraße, und schnell kristallisierte sich unter den früheren Interessenten die heutige Sechser-Mannschaft heraus, die mutig genug war, den Traum vom gemeinsamen Altwerden wahr zu machen. Zwei von ihnen sind schon Rentner, die anderen arbeiten als Sicherheitsfachkräfte und in der Altenpflege. Sie haben ihre Häuser verkauft, vermietet oder auf die Kinder übertragen, sich von vielen liebgewonnenen Möbeln getrennt – und noch einmal einen Kredit aufgenommen, um den Umbau zu finanzieren. Nun bewohnen sie im Obergeschoss separate Zwei-Zimmer-Wohnungen mit Küche und Bad, teilen sich das Erdgeschoss und vermieten eine weitere kleine Wohnung. Diese war beim Hausumbau gleich vorsorglich eingeplant worden – für den Fall, dass einer von ihnen irgendwann pflegebedürftig werden und eine Pflegekraft hier einziehen sollte. Die Räume sind barrierefrei, und für den späteren Einbau eines Treppenliftes ist ebenfalls alles vorbereitet. "Man sollte frühzeitig anfangen mit einem solchen Projekt", sagt Elke Raddatz. "Mit 70 fällt es viel schwerer, sich noch mal umzustellen."

Freunde und Verwandte lieben das Haus an der Dorfstraße, das von allen das "Vivo-Haus" genannt wird – nach dem Namen der Einzelhandelskette, die darin einst vertreten war. Man könnte es auch so interpretieren: als lateinisches "vivo", das übersetzt "ich lebe" heißt. Denn hier ist Leben in der Bude. Donnerstagnachmittags zum Beispiel kommen acht Rentner zu Christa Dammann und Harry Wegmann, zum Kaffee und Kartenspiel. "Dann sind wir eine Art Seniorenbegegnungsstätte", witzelt Christa Dammann.

Was das Schönste an dieser WG ist? Die Geselligkeit, findet Harry Wegmann. Der 61-jährige Rentner wohnte vorher allein und ein bisschen einsam in seinem großen Haus und genießt es nun, viele Gelegenheiten zum Klönschnack zu haben. Die anderen freuen sich, dass der eher introvertierte Harry offener geworden ist, seit er in der WG lebt. Man hilft sich gegenseitig, macht für die anderen Botengänge oder leistet Fahrdienst – jeder steuert nach Kräften seine Unterstützung bei. Das Thema Putzen, in Studenten-WGs klassischer Auslöser für lange Diskussionen und ausgefeilte Reinigungspläne, liefert keinen Gesprächsanlass. "Jeder macht seinen Job, der eine draußen im Garten, der andere drinnen", sagt der 54-jährige Peter Stier. Lebensreife verbreitet hier wohltuende Gelassenheit. Gemeinsam fühle man sich auch viel sicherer, das finden alle. Und wenn mal einer die Nase voll hat von den anderen? "Kein Problem, wir können und dürfen uns auch jederzeit aus dem Weg gehen."