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Bettina Rust litt jaherlang unter heftiger Migräne, fiel oft tagelang mit Schmerzen aus. Und die 56-jährige Moderatorin und Podcasterin stellte fest, dass das Leiden viel zu oft als „Frauen-Krankheit“ oder „Stell-dich-nicht-so-an-Krankheit“ abgestempelt wird. Im Interview spricht Bettina Rust darüber, wie die Migräne ihr Leben bestimmte, wie sie die Krankheit bezähmt hat und was sich im Umgang mit Migräne-Patientinnen und -Patienten ändern muss.

Frau Rust, haben Sie eigentlich mittlerweile ein Tattoo?

Bettina Rust: (lacht) Nein. Sie spielen vermutlich darauf an, dass ich mal aus Spaß gesagt habe, ich würde mir „Music is my husband“ stechen lassen. Jetzt wäre es eher „I love Pharma“.

Neue Liebe?

Rust: Sozusagen. Wobei sie so neu gar nicht mehr ist. Ich würde jedenfalls nicht das Leben ­haben, das ich heute führe. Ich will auch nicht ausschließen, dass ich vielleicht gar keins mehr führen würde – wäre nicht 2018 eine neue Migräne-Prophylaxe auf den Markt gekommen.

Das Medikament hat mir mein Leben zurück­gegeben, so pathetisch das klingt.

Sie meinen die Antikörperspritze mit dem Wirkstoff Erenumab.

Rust: Dank der bin ich seit gut fünf Jahren so gut wie migränefrei. Davor war ich an einem absoluten Tiefpunkt angelangt, von dem ich niemals gedacht hätte, dass es ihn gibt. Das Medikament hat mir mein Leben zurück­gegeben, so pathetisch das klingt.

Wie sah Ihr Leben damals aus?

Rust: Ich muss erst noch weiter zurückgehen: Als junge Frau litt ich zyklusbedingt unter ­Migräne. Ein Medikament aus der Apotheke half da gut. Wenn ich Alkohol getrunken hatte, ging es mir in acht von zehn Fällen schlecht. Glücklicherweise hatte ich eh nie ein Faible dafür.

Und das ging viele Jahre so gut?

Rust: Ja, auch wenn ich das Medikament ärgerlich teuer fand. Wenn ich bedenke, wie viel die Spritze kostet, die ich heute nehme, ist das natürlich ein Witz. Jedenfalls kam ich irgendwann in die Perimenopause, den Beginn der Wechseljahre. Bei vielen Frauen hört in dieser Phase die Migräne eher auf. Bei mir ging es komplett in die andere Richtung: Ich bekam häufigere und immer heftigere Anfälle. Ich war wie gefangen.

Gefangen in Schmerzen?

Rust: Genau. Allein mit schrecklichen Dämonen. Ich konnte gar nichts mehr: nicht mit dem Hund rausgehen, nicht mit dem Handy nach Hilfe fragen – viel zu grell.

Dämonen: Ist das das Bild, das Sie für die Schmerzen gefunden haben?

Rust: Ich habe unzählige Bilder dafür. Die Migräne kann auch ein riesiger, schwarzer Sack sein – und du weißt nicht, was drinsteckt. Ist er dieses Mal leicht zu schultern? Voller Glassplitter? Kriegst du einen Schlag, wenn du hineinfasst?

Und es wurde nur noch schlimmer?

Rust: Ich hatte am Ende 15 Schmerztage im Monat. Ich weiß noch, dass ich vor vielen Jahren mal etwas über Menschen mit so vielen Schmerztagen las und mich leichtherzig fragte: Leben die überhaupt noch?

Haben Sie überhaupt noch gelebt?

Rust: Manchmal dachte ich: Wie lange halte ich das noch aus? Ich musste tageweise die Kontrolle über mein Leben aufgeben. Und mal abgesehen von Übelkeit und heftigsten Schmerzen – für eine Freiberuflerin, die gern so zuverlässig wie möglich ist, war das ein einziges Fiasko. Ich konnte nie vorhersehen, ob dann einer der Tage sein würde, an denen ich lebte, an denen ich denken und reden konnte.

Was haben Sie dann getan?

Rust: Sobald sich die Attacken ankündigten, konnte ich oft noch mit Medikamenten gegensteuern, zumindest wenn ich sie rechtzeitig einnahm. Ein paar Minuten zu spät, und die Sache kippt – wer Migräne hat, weiß sofort, was ich meine. Hatten sich die Schmerzen über Nacht eingeschlichen, ging nichts mehr. Oder nur mit größtem Kraftaufwand.

Einmal war ein wichtiges Interview mit Peter Kruder von „Kruder & Dorfmeister“ geplant, diesen tollen Musikern aus Österreich. Er war extra früher nach Berlin angereist. Das konnte ich nicht einfach absagen. Aber ich hatte mich übernommen. Nach jeder Frage bat ich um Verständnis und sank unter den Tisch. Dort kämpfte ich gegen diesen Krieg in mir. Natürlich tat es dem Gast total leid, er bot sogar an, das Gespräch abzubrechen. Aber ich dachte, ich müsste es durchziehen. Irgendwie hat es doch ­geklappt.

Wie lange dauerte diese Phase?

Rust: Etwa zwei Jahre.

Eine Menge Lebenszeit.

Rust: Ja, aber wie viele Menschen leiden jahrzehntelang unter chronischen Schmerzen? Sogar Kinder haben Migräne und können vielleicht gar nicht angemessen beschreiben, was los ist. Das sind böse, marodierende Geister, die mit dicken Springerstiefeln von innen gegen dein Gehirn treten.

Was ist Ihre Migräne heute?

Rust: Ein großer Wels in einem zugefrorenen See. Manchmal kann ich durchs Eis hindurch seine Wege verfolgen. Manchmal stößt er gegen die Eisdecke. Ich weiß, da ist was, aber der Schmerz dringt nur noch sehr, sehr selten zu mir durch. Das sind dann nicht meine besten Tage – alles ist mühsam, als bewegte ich mich durch kalten Honig. Aber das ist wirklich der klitzekleine Rest von diesem Monster, das mich sonst komplett zerfetzt und gefressen hat.

Ich wünsche mir einen selbstverständlicheren, sensibleren Umgang mit dieser Krankheit.

Konnten Sie Ihrem Umfeld je begreiflich machen, was da mit Ihnen passierte?

Rust: Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich habe mich oft gefragt, wie ich als Zuhörerin wäre, ob ich als jemand, der Migräne nicht kennt, empathisch genug wäre. Oder würde ich glauben, dass mein Gegenüber übertreibt? „Das bisschen Kopfschmerzen, schlaf dich doch mal richtig aus.“ Migräne ist nach wie vor stigmatisiert.

Inwiefern?

Rust: Wenn du mit einem Gipsarm ins Büro kommst, sagen alle: „O weh, wo kann ich unterschreiben?“ Migräne ist meist nach außen unsichtbar. Je nach Intensität schaffen es Erkrankte, mehr oder weniger gut zu funktionieren, dabei sind sie schon am Limit. Ich wünsche mir einen selbstverständlicheren, sensibleren Umgang mit dieser Krankheit. Mehr Verständnis auf der einen Seite, aber auch mehr Mut auf der anderen.

Mut – wofür?

Rust: Ganz klar: um Hilfe zu bitten im Freundeskreis, in der Nachbarschaft, im Job. Ich ziehe den Hut vor jedem alleinerziehenden Elternteil, das Kind, Haushalt und oft noch den Job auf die Reihe bekommt, wenn Migräne im Spiel ist. Das ist so schon anstrengend genug. Die Krankheit betrifft Frauen mehr als doppelt so häufig wie Männer. Bei einer Diskussion, die ich zum Thema „Migräne“ moderierte, war es unglaublich schwer, einen Mann aufs Podium einzuladen, weil sich Männer nur sehr ungern mit dieser Krankheit identifizieren. Noch so ein Stigma: „Frauen-Krankheit“. „Stell-dich-nicht-so-an-Krankheit“. Das muss sich ändern.

Schildern Sie uns noch, wie Sie Ihr Leben zurückbekamen?

Rust: Ich hatte mal wieder ein neues Migräne-Mittel abgesetzt, das ich nicht vertragen hatte. Meine Ärztin erzählte von einem neuen Medikament, das die Anzahl der Anfälle um die Hälfte reduziere. Es ist ein Riesenglück, dass dieses Mittel bei mir wirkt. Vielleicht wollte sich das Leben für all die furchtbaren Schmerz-Spektakel bei mir entschuldigen – jedenfalls erlaubte die hohe Anzahl der Schmerztage, dass ich die Spritze probieren konnte. Ich habe so gut wie keine Anfälle mehr. Entschuldigung angenommen.


Quellen:

  • Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft : Erenumab (Aimovig), frühe Nutzenbewertung, neue wissenschaftliche Erkenntnisse. Arzneiverordnung in der Praxis: https://www.akdae.de/... (Abgerufen am 07.03.2024)
  • Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG): Erenumab (Aimovig) bei Migräne. https://www.gesundheitsinformation.de/... (Abgerufen am 07.03.2024)