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Es gibt diesen einen Moment, in dem ich mich sofort wieder wie ein Kind fühle. Dann nämlich, wenn mich ein Magen-Darm-Virus erwischt hat und ich spuckend über der Kloschüssel hänge. Direkt bin ich wieder fünf Jahre alt, trage einen Sternchen-Schlafanzug und mein Vater hält mir meine ­Haare zurück, redet beruhigend auf mich ein. Warum es nun ausgerechnet diese Erinnerung ist, die – im wahrsten Sinne des Wortes – hochkommt? Ich weiß es nicht.

Hilft der Bezug zum früheren Ich, glücklicher zu leben?

Wer seine Seele heilen will, muss mit seiner Kindheit ins Reine kommen, so die Botschaft der Psychologin und Autorin Stefanie Stahl, die das Buch „Das Kind in mir muss Heimat finden“ geschrieben hat. Mit ihren therapeutischen Tipps erreicht sie Millionen Menschen. Die Hoffnung ihres psychologischen Ansatzes: Fast alle unsere heutigen Verhaltensweisen (vor allem die, die uns stören) sollen sich durch Erfahrungen aus der Kindheit erklären – und durch Aufarbeitung lösen lassen. Stahl hat das „innere Kind“ nicht neu erfunden, ist aber in Deutschland die Pionierin einer ganzen Bewegung.

Mittlerweile gesellt sich weitere Ratgeberliteratur dazu. Zum Beispiel „Das Buch, von dem du dir wünschtest, deine Eltern hätten es gelesen (und deine Kinder werden froh sein, wenn du es gelesen hast)“ der britischen Psychotherapeutin Philippa Perry. Zudem gibt es Spiele mit Namen wie „Heile dein inneres Kind – mit 55 Karten zum stärkeren Ich“. In den sozialen Medien finden sich unzählige Videos, die mit der Bildunterschrift „Ich-heile-mein-inneres-Kind“ versehen sind. Darauf zu sehen: erwachsene Frauen, die auf Spielplätzen schaukeln. Bei diesem Anblick könnte man den Eindruck bekommen, in uns würde tatsächlich eine kleine Miniatur-Version unseres Selbst wohnen, dessen Bedürfnisse es zu befriedigen gilt. Das stimmt nicht ganz. Aber hilft der Bezug zu meinem frühen Ich mir vielleicht wirklich, ein glücklicheres Leben zu führen?

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Was genau ist das „innere Kind“?

Obwohl der Begriff „inneres Kind“ vielfach auftaucht, mangelt es an einer einheitlichen wissenschaftlichen Definition. Auch die Altersspanne der als relevant angesehenen Kindheitserfahrungen reicht von null bis 17 – je nachdem, wen man fragt. Universell akzeptiert wird das Konzept in der Psychologie und Psychotherapie nicht. „Es handelt sich um ein psychologisches Modephänomen. Ein Begriff, mit dem manche Psychotherapeutinnen und -therapeuten arbeiten“, erklärt Wolfgang Lutz. Er ist Leiter der Abteilung für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Trier und hat die neue Auflage des Grundlagenwerks „Bergin and Garfield’s Handbook of Psychotherapy and Behavior Challenge“ mitherausgegeben. Er kennt sich aus. Also rufe ich ihn an auf meiner Suche nach Erklärungen.

„In Selbsthilferatgebern zu diesem Thema tauchen häufiger auch einmal mehr oder weniger überzogene oder sogar esoterische Argumente auf“, sagt Lutz. Dennoch können biografische Elemente in der Behandlung hilfreich sein. „Sie können in der Therapie natürlich ­eine Rolle spielen – aber immer im Rahmen einer professionellen Aufarbeitung. Die alleinige Auseinandersetzung mit der Kindheit löst die Probleme aber nicht“, so Lutz. Die Schwierigkeit: Weil das „innere Kind“ keine einheitlich definierte psychologische Methode ist, kann sie nicht gut auf ihre Wirksamkeit hin untersucht werden.

Warum sind die ersten beiden Lebensjahre besonders prägsam?

Klar ist: Nicht alle Probleme, die man als erwachsener Mensch so hat, sind in der Kindheit entstanden. Aber natürlich gibt es Zusammenhänge zwischen unseren Verhaltensweisen und unserer Prägung. Ich selbst bin das mittlere von drei Kindern. In meiner Familie hatte ich oft die Rolle der Unterhalterin inne. Heute fällt es mir deswegen leicht, zu smalltalken und auf Leute zuzugehen. ­(Einen Ratgeber brauchte es für diese Erkenntnis allerdings nicht.)

Wurde jemand in seiner Kindheit häufig von seinen Eltern geschimpft, wiederholt er als Erwachsener eventuell dieselben negativen Verhaltensweisen gegenüber seinen eigenen Kindern. Wer Vertrauen und Nähe erfahren hat, kann diese später leichter weitergeben. Ein Großteil der Vertreterinnen und Vertreter der „Inneres Kind“-Theorie heben insbesondere die ersten beiden Lebensjahre als prägend hervor. Die Dinge, die wir in dieser Phase erleben, würden sich besonders tief in unser Gehirn „einspuren“. Mich interessiert: Wie irreversibel sind diese Erfahrungen wirklich?

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Charlotte Grosse Wiesmann leitet eine Forschungsgruppe für „Meilensteine früher kognitiver Entwicklung“ am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. „Es ist tatsächlich so, dass das Gehirn sich in den ersten Lebensjahren stark anpasst“, bestätigt sie mir. Insbesondere im ersten und zweiten Lebensjahr organisiere sich das Gehirn vollständig neu. Das liege daran, dass die Verbindungen im Gehirn von Neugeborenen noch nicht so gut leiten. Es müsse sich erst eine Fettschicht um die Nervenfaser herum entwickeln. Myelinisierung nennen Fachleute diesen Prozess. Dabei entstehen auch neue Nervenverbindungen in Regionen, die gefordert werden. Bereiche, die viel genutzt werden – wie etwa die Sprache –, reifen aus, werden im Verhältnis zu anderen Regionen größer.

Verändert sich das Gehirn nur in der frühkindlichen Phase?

Ich will von Grosse Wiesmann wissen, was es denn mit dem Urvertrauen auf sich hat – einem der häufigsten Begriffe, der herumwabert, wenn es um frühkindliche Prägung geht. Antwort der Expertin: Auch ein solches Urvertrauen könne mit der Beanspruchung von Verbindungen in gewissen Hirnregionen zusammenhängen. Erlebt ein Kind positive soziale Interaktionen, werden diese trainiert und dadurch für spätere soziale Verständigung gestärkt.

Die allgemeine Herausforderung beim Studium frühkindlicher Entwicklung: An Neugeborenen lassen sich keine experimentellen Studien durchführen. Man würde keinem Baby absichtlich soziale Interaktionen verweigern, nur um Hirnstrukturen besser verstehen zu können. Dass sich das Gehirn in den ersten Lebensjahren besonders stark verändert, stützt dennoch die These, dass diese Jahre besonders einschneidend sind. „Aber“, so Grosse Wiesmann, „das Gehirn hat lebenslange Plastizität.“ Bedeutet: Unser Gehirn kann sich immer an Gegebenheiten anpassen. Wir können auch später noch neue Dinge lernen – und dann verändert sich unsere Gehirnstruktur entsprechend. Das beweisen zahlreiche Studien. Erlebnisse aus der Zeit nach der Kindheit können also ebenfalls prägend sein.

Wann ist Auseinandersetzung mit der Kindheit sinnvoll?

Wer sich mit dem inneren Kind beschäftigt, kommt an den amerikanischen Psychologinnen Erika J. Chopich und Margaret Paul nicht vorbei. Die beiden prägten den Begriff des „inner bonding“ (auf Deutsch: innere Bindung). Bereits Anfang der 90er-Jahre veröffentlichten sie das Buch „The Healing your Aloneness Workbook“, das hierzulande als „Das Arbeitsbuch zur Aussöhnung mit dem inneren Kind“ herausgegeben wird. Angestrebt wird darin der Zustand eines „höheren Selbst“, das durch eine Verbindung des erwachsenen Ichs mit dem inneren Kind entstehen soll.

Die Einleitung enthält nicht gerade kleine Versprechungen wie: Dann „öffnet sich unser Herz, und wir können in Vereinigung mit anderen und mit unserer Höheren Macht Liebe geben und empfangen. Unser höheres Selbst ist mit der Wahrheit des Universums verbunden (…)“. Sonst wird das Buch aber sehr konkret. Es enthält zum Beispiel Übungen zur Freisetzung von aufgestauter Wut. Soll ich die vielleicht einmal ausprobieren?

In meinem Telefonat mit Wolfgang Lutzmacht der Psychologe eine interessante Bemerkung: „Es ist erst mal wichtig zu wissen, dass nicht jede und jeder Therapie braucht.“ Kann die intensive Auseinandersetzung mit der Kindheit vielleicht sogar Schaden anrichten? Das Problem mit dem Blick in die eigene Vergangenheit ist: Wer lange genug gräbt, findet mit Sicherheit auch etwas. Irgendetwas.

Eine Studie der Universitäten Köln und Halle zeigt: 20 Prozent der Erwachsenen entfremden sich im Laufe des Lebens von ihrem Vater. Von der Mutter sind es neun Prozent. Sie haben weniger als einmal im Monat Kontakt zu ihren Eltern. Teilweise auch, weil sie ihnen Dinge aus der Kindheit übel nehmen. Das schwierige Verhältnis zu den Eltern ist heutzutage gar ein beliebtes Small-Talk-Thema unter Freunden. Doch wie fair ist es eigentlich, den Menschen gegenüber, die uns aufgezogen haben, gezielt nach negativen Erlebnissen zu suchen?

„Es gibt Fälle, da ist es genau das Richtige“, sagt Psychotherapieforscher Wolfgang Lutz. Dann nämlich, wenn man als Kind Vernachlässigung oder Traumata erlebt hat. Er betont: „Wenn jemand eine psychische Störung oder ernsthafte Problematik hat – sei es eine Angststörung, eine depressive Störung, Zwangsstörung oder was auch immer –, dann ist eine Psychotherapie sinnvoll und wichtig.“ Dann hilft Selbsthilfe-Literatur jeglicher Art nicht mehr.

Diese sei gut, um sich in Eigenregie zur persönlichen Bereicherung und Entwicklung mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen und die Selbstreflexion anzuregen. Bei manchen Menschen würde das, so Lutz, auch die Hemmschwelle nehmen, sich Hilfe zu suchen. „Aber wenn ernsthafte Probleme vorliegen und jemand mit sich oder seinem Alltag oder seiner Umgebung nicht mehr klarkommt, dann stoßen Ratgeber einfach an Grenzen. Dann braucht es eine professionelle therapeutische Behandlung.“ Das sagt Lutz in unserem Gespräch immer wieder. Ich merke, wie wichtig ihm das ist.

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Wie prägen negative Gedankenmuster das eigene Leben?

Als Kind habe ich selbst keine Traumata erlebt. Von so mancher Literatur über Vergangenheitsbewältigung fühle ich mich trotzdem abgeholt. Dann zum Beispiel, wenn es um sogenannte Glaubenssätze geht. Also um negative Gedankenmuster, die man als Kind verinner­licht hat – und die bis heute nachhallen. „Du bist zu laut für ein Mädchen“, ist einer von ihnen. „Du bist nicht klug genug“, ­wurde mir in der ersten Klasse von meiner Lehrerin vermittelt.

Alles Dinge, die auch heute noch aufploppen, vor allem in Phasen, in denen es mir nicht gut geht. Selbsthilfe-Literatur ermuntert im ersten Schritt zu der Erkenntnis, dass es diese Glaubenssätze gibt – und es sich dabei nicht um absolute Wahrheiten handelt. Das Lesen über und das Erkennen von Glaubenssätzen, die mich geprägt haben, hat mich durchaus weitergebracht. Würde es jeden und jede weiterbringen? Ganz sicher bin ich mir nicht.

Was ist nun mit Leuten wie mir, zu denen die Mehrheit der Bevölkerung gehört? Selbstverständlich haben meine Eltern nicht alles richtig gemacht. Bei uns wurde gestritten, Türen wurden geknallt. Manche Erinnerung hat sich eingebrannt. Etwa daran, dass ich mich aus Angst im Bad eingeschlossen habe, weil mein Bruder und ich uns sonst eine ernste Schlägerei geliefert hätten. Wie alt mag ich da gewesen sein? Keine Ahnung.

Es gab ­eine Zeit, da hatten meine Eltern nicht die finanziellen Mittel, um immer alles möglich zu machen. Natürlich habe ich diese Sorgen gespürt und mitbekommen. Ich hatte keine Bullerbü-Kindheit. Aber meine Eltern waren da. Und haben mich geliebt. Und ehr­licherweise haben sie mir auch viel verziehen. Zum Beispiel als ich meiner Mutter in der Grundschule Geld aus dem Portemonnaie geklaut habe, um beim Bäcker um die Ecke Süßigkeiten zu kaufen.

Es gibt Erlebnisse aus späteren Zeiten, die, glaube ich, deutlich einschneidender für meine Entwicklung waren. Der Ex-Freund, der mich blöd behandelt hat. Die Gleichzeitigkeit des Todes meines Großvaters und der Geburt meines Sohnes.

Warum ist es hilfreich, die Perspektive zu wechseln?

Im Internet stoße ich unter dem Schlagwort „inneres Kind“ auf das Video einer Mutter und ihres Sohnes, die sich gemeinsam ihr Frühstück zubereiten. Der etwa Vierjährige macht sich einen Kakao und verschüttet dabei die komplette Milch. Anstatt wütend zu werden, erklärt die Mutter ihm ruhig, dass alles in Ordnung sei und er es einfach noch mal versuchen solle. Darunter finden sich Tausende Kommentare von Menschen, die erzählen, dass ihre Eltern früher in derselben Situation ausgerastet seien. Und wie sehr sie das Video deshalb bewegt hat. Es zeigt, wie sehr Menschen die Begegnung mit der eigenen Kindheit berühren kann. Konzept „Inneres Kind“ hin oder her.

Es gibt eine Übung, die in fast jeder Inneres-Kind-Literatur zu finden ist: den Perspektivwechsel. Zum Beispiel in Form eines Briefes an das frühere Ich. Was würde ich da wohl schreiben? Hallo Klein Marisa, glaube nicht alles, was du denkst. Ich pass schon auf dich auf. Du wirst nicht alles richtig machen, aber so manches dafür richtig gut. Verzeih dir Dinge. Du bist genug. Alles ist und wird gut. Denn du hast einen Papa, der da ist und dir die Haare hält, wenn du spucken musst.


Quellen:

  • Handbuch: L. Barkham, M., Lutz, W., & Castonguay, L. G. (Eds.). „Bergin and Garfield's handbook of psychotherapy and behavior change: 50th anniversary edition“, John Wiley & Sons, Inc. (2021)

  • Buch: Stefanie Stahl, „Das Kind in mir muss Heimat finden. Der Schlüssel zur Lösung (fast) aller Probleme“, Kallash Verlag (2015)

  • Buch: Chopich und Paul, „Das Arbeitsbuch zur Aussöhnung mit dem inneren Kind“, Ullstein (2005)

  • Philippa Perry „Das Buch, von dem du dir wünschst, deine Eltern hätten es gelesen (und deine Kinder werden froh sein, wenn du es gelesen hast), Ullstein (2021)

  • Glaesmer H , Braehler E: The association of traumatic experiences and posttraumatic stress disorder with health care utilization in the elderly - a German population based study . In: General Hospital Psychiatry: 01.04.2011, https://doi.org/...
  • Arránz Becker, O, Hank, K: Adult children’s estrangement from parents in Germany. In: Journal of Marriage and FamilyJournal of Marriage and Family Volume 84 Issue 1 19.08.2021, 1: 347-360