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Anfang Oktober 2023. Es ist vorbei. Die letzte Operation geschafft. Endlich. Louis K. fühlt sich noch schwach. Und doch spürt er vor allem eins: große Erleichterung. Er ist komplett. Ein ganzer Mann. Louis hofft, dass es die allerletzte geschlechtsangleichende Operation war. Der 25-Jährige möchte nach dieser langen, anstrengenden Reise zu sich selbst endlich das Leben leben, das er sich schon so lange wünscht. „Für mich ging es eigentlich gar nicht darum zu entscheiden, ob ich diesen Weg gehe. Ich musste das machen. Sonst hätte ich vielleicht mein Leben beendet“, erzählt er.

Im falschen Körper geboren

Als Mädchen geboren, spürte Louis schon im Grundschulalter, dass er viel lieber ein Junge wäre. Und dachte: „Das geht ja nicht, also musst du klarkommen.“ Als sich sein Körper in der Pubertät veränderte, ging es ihm zunehmend schlecht. Er wurde magersüchtig: ein verzweifelter Versuch, Brustwachstum und Periode aufzuhalten. Mit Transidentität hatte er sich bis dato nie befasst, er wusste nicht mal, dass es das gibt.

Unter Transidentität versteht die Medizin eine „Geschlechtsinkongruenz“: Betroffene spüren einen Widerspruch zwischen erlebtem Geschlecht und dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Dieser Widerspruch führt bei manchen zum Wunsch nach einer Transition, also ­einem Wechsel des Geschlechts.

Zahl transidenter Menschen weitestgehend unbekannt

Wie viele transidente Menschen es in Deutschland gibt, ist schwer zu sagen. Einige Statistiken berufen sich auf die Zahl der Verfahren, mit denen Geburtsname und eingetragenes Geschlecht geändert wurden. Allein im Jahr 2021 waren das 3232. Seit 1980 steigt die Zahl tendenziell. Andere Er­hebungen zählen die chirurgischen geschlechtsangleichenden Eingriffe. All dies sind nur Annäherungen. Denn nicht alle transidenten Menschen lassen sich operieren oder ändern ihren Personenstand.

Louis erfuhr schließlich auf Youtube, was es bedeutet, „trans“ zu sein. Und wie er seinen Leidensdruck mindern kann. Er probierte, was ihm guttut: „Zum Beispiel habe ich meine Haare kurz geschnitten und mir ein Oberteil bestellt, das die Brüste abbindet. Und es hat sich alles top angefühlt.“ Mit seiner Familie sprach er nicht darüber.

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Wie man trans* Kinder begleitet

Wie viele Menschen fühlen sich ihrem Geburtsgeschlecht nicht zugehörig? Und wie gehen Expert*innen und Eltern vor, wenn ein Kind dies äußert? zum Artikel

Erst ein halbes Jahr später, im Frühjahr 2018, offenbarte er sich. Zuerst seiner Mutter: „Die war ziemlich perplex und wusste nicht, was sie dazu sagen soll. Das hat sich doof für mich angefühlt, weil ich eigentlich schon voll den Plan hatte.“ Louis ließ nicht locker, bis seine Mutter verstand, wie ernst es ihm ist. Etwa damit, dass er seinen Mädchen­namen ablegen will.

Neues Gesetz für transidente Menschen geplant

Transidente Menschen, die wie Louis ihren Vornamen und Geschlechtseintrag ändern lassen wollen, müssen das seit 1980 im Rahmen des Transsexuellengesetzes (TSG) tun. Die aktuelle Bundesregierung möchte dieses Gesetz abschaffen und hat Ende August einen Gesetzesentwurf beschlossen. Das sogenannte Selbstbestimmungs­gesetz soll das TSG ersetzen. Derzeit befassen sich Bundesrat und Bundestag damit. Ein Inkrafttreten ist für November 2024 geplant.

Das neue Gesetz soll Menschen wie Louis eine Personenstandsänderung erleichtern. Bisher ist ein Verfahren vor Gericht nötig. Dort wird dann anhand zweier Gutachten entschieden, ob der Personenstand geändert werden darf. Dafür müssen transidente Menschen eine lange, kostspielige und oft als demütigend empfundene Begutachtung über sich ergehen lassen. Mit dem Selbstbestimmungsgesetz soll das Ändern von Geschlecht und Vornamen künftig per Selbstauskunft und beim Standesamt ­möglich sein.

Betroffenenverbände, etwa der Lesben-und Schwulenverband (LSVD), begrüßen grundsätzlich die Abschaffung der Fremdbestimmung durch das TSG. Dennoch kritisieren sie Teile des Entwurfs von August dieses Jahres. Sie bemängeln etwa den Verweis auf das bestehen bleibende Hausrecht privater Einrichtungen wie Saunen. Laut Hausrecht können diese entscheiden, wer ihr Gelände betreten darf und wer nicht. „Dies könnte als Legitimierung für diskriminierende Ausschlüsse […] missverstanden werden“, schreibt der LSVD. Er fordert unter anderem eine Nachbesserung, „damit das Gesetz wirklich den Namen ‚Selbstbestimmungsgesetz‘ verdient“.

Stigmatisierung von Betroffenen

Für Elke S. aus ­Bocholt bedeutete ihr neuer ­Name einen Wendepunkt. Zum ersten Mal wurde sie als „Frau S.“ angesprochen, als sie sich gerade in einer psychosomatischen Klinik befand. „Für mich war das damals ein großes Geschenk und es hat mir ein Stück Stabilität zurückgegeben“, erinnert sich die heute 67-Jährige. Vor dem Klinikaufenthalt erlebte die transidente Frau eine „Tsunamiwelle an Gerüchten“, wie sie erzählt. Nicht zuletzt deshalb, weil sie damals evange­lischer Gemeindepfarrer und Seelsorger bei Feuerwehr und Polizei war.

Die Leute tratschten, der Pfarrer S. sei in Frauenkleidern gesehen worden und werde eine Geschlechtsangleichung vornehmen lassen. „Ich bin in einem Umkreis von 80 bis 100 Kilometern auf die Gerüchte angesprochen worden. Das hat mich damals erschlagen.“ Dazu kam, dass die Familie von S. damaliger Frau von einem Tag auf den anderen keinen Kontakt mehr wünschte. Ein herber Schlag, der bei Elke S. den Gedanken aufkommen ließ: „Was soll ich dann ­eigentlich noch auf dieser Welt?“

Früher Pfarrer, heute Seelsorgerin und Beraterin für trans­idente Menschen und ihre Angehörigen im Auftrag der evange­lischen Kirche: Elke S. will dazu beitragen, die strikte Einteilung in männlich und weiblich aufzu­lösen.

Früher Pfarrer, heute Seelsorgerin und Beraterin für trans­idente Menschen und ihre Angehörigen im Auftrag der evange­lischen Kirche: Elke S. will dazu beitragen, die strikte Einteilung in männlich und weiblich aufzu­lösen.

Transidentität ist keine Krankheit

Neben dem Identitätskonflikt noch Diskriminierungserfahrungen zu machen: „Das ist ein Zustand, der extrem belastend sein muss“, sagt der Diplom-Psychologe Marcus Rautenberg von der Universität Koblenz-Landau. Er arbeitet seit mehr als zehn Jahren mit transidenten Menschen. Eine große Gruppe seiner Patientinnen und Pa­tienten käme mit psychischen Beschwerden zu ihm, die eine Reaktion etwa auf mangelnde Akzeptanz seien.

Dennoch ist ihm wichtig zu betonen: „Es gibt nicht den einen transidenten Menschen.“ Bei manchen könne man zwar Diagnosen wie Angsterkrankungen oder Depressionen stellen. Doch die hätten – wie bei anderen Menschen auch – nicht zwangsläufig mit der Geschlechtsidentität zu tun. Eine weitere große Gruppe sei nicht behandlungsbedürftig und doch zu mindestens einem Jahr Psychotherapie verpflichtet, um Anspruch auf eine Transi­tion zu haben. Dass sich Kostenträger so absichern wollen, versteht Rautenberg. Doch als Therapeut, der Einblick in die Perspektive Betroffener gewonnen hat, könne er das nicht nachvollziehen. „Zumal Transidentität per se keine Krankheit ist, die man mit Psychotherapie behandeln kann“, sagt er. „Es ist ein unveränderbarer Zustand.“

Diskriminerung nach dem Outing

Elke S. war 54, als sie sich schließlich outete. Jahrzehnte hatte sie sich vor sich selbst versteckt, bis sie anfing, weiblicher zu werden. „Das beginnt beim Epilieren des Bartes, geht beim Zupfen der Augenbrauen weiter, über ein Permanent Make-up, bis man schließlich den Mut hat, sich entsprechend zu kleiden“, erzählt sie.

Während Louis den Rückhalt aus der Familie hatte, trug Elke S. gleich zwei Kämpfe aus: im Privaten und im Beruflichen. Zuerst arbeitete sie noch als Pfarrerin in der Gemeinde. Doch zunehmend fühlte sie sich ungerecht behandelt: „Es war für mich ein Unding, dass Menschen über mich entscheiden wollten, etwa welche Kleidung ich unter dem Talar oder auch privat trage, wie kurz meine Röcke sein dürfen oder ob ich hochhackige Schuhe trage. Da war dann für mich eine Grenze erreicht.“ Noch einmal begab sich S. in die Klinik, um für sich Strategien zu entwickeln: Wie kann sie gegen diese Diskriminierung vorgehen?

Unterstützung durch Familie und Schule

Louis outete sich noch während der Schulzeit. Für seine Mitschülerinnen und Mitschüler kein Problem. Auch nicht für die Lehrerschaft. Seine Schule bot sogar eine genderneutrale Toilette an. Es dauerte dann noch weitere sechs Monate, bis Louis das Rezept für Testosteron in den Händen hielt: „Ich habe die Schule geschwänzt, weil das ein sehr besonderer Tag für mich war. Vor lauter Aufregung habe ich den Weg zur S-Bahn nicht mehr gefunden.“

Nach wenigen Tagen wurde Louis’ Stimme kratziger und schließlich tiefer. Ganz langsam wuchs der Bart, die so verhasste Periode setzte aus. Doch diese Veränderung reichte Louis nicht. Er wünschte sich eine Mastektomie, bei der die Brüste entfernt wurden. Vorher musste er 18 Monate Psychotherapie machen und er benötigte Gutachten, die bestätigen, dass der Eingriff medizinisch notwendig ist. Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung musste Louis’ Antrag bewilligen.

„Die angestrebten Behandlungen sollen die Lebensqualität der Betroffenen spürbar und nachhaltig verbessern“, erklärt Dr. Timo Nieder, Leiter der Spezialambulanz für Sexuelle Gesundheit und Transgender-Versorgung am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Dabei können Behandelnde sich an ­einer wissenschaftlichen Leit­linie orientieren und müssen begründen, wenn sie von ihr abweichen. Timo Nieder empfiehlt Menschen, die eine medizinische Behandlung zur Unterstützung der Transition planen, den laienverständlich geschriebenen „Leitfaden Trans*Gesundheit“.

Geschlechtsumwandlungen nicht unumstritten

Auch wann geschlechtsangleichende Eingriffe vorgenommen werden sollten, ist eine komplexe und viel diskutierte Frage. „Einerseits sind die Effekte bei Jugendlichen sichtbarer und teils effektiver als bei Menschen, die im Erwachsenenalter ihre Transition beginnen“, so Timo Nieder. Gleichzeitig sei es viel schwieriger, die Eingriffe mit ­einem ausreichenden Maß an Sicherheit zu begründen. „Denn das Jugendalter ist ­eine Lebensphase der Suche und Orientierung – auch im Geschlechtlichen.“ Der Grund für die Vorsicht: Einige Eingriffe sind unwiderrufbar, etwa ein Stimmbruch durch die Einnahme von Testosteron, der chirurgische Aufbau einer sogenannten Neo-Vagina oder das Entfernen von Hoden.

Kritiker solcher Eingriffe argumentieren oft mit Detransitionen. Damit sind Fälle gemeint, in denen Menschen nach einer Transition zum bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht zurückkehren. Tatsächlich liegt der Anteil dieser Fälle aber in verschiedenen Erhebungen im niedrigen einstelligen Prozentbereich. „Bei ­einem Großteil dieser Menschen liegt es nicht daran, dass sie merken, sie haben sich vertan“, sagt Psychotherapeut Rautenberg. Meistens handle es sich um „Passing“-Probleme: Die Betroffenen wollen weiter im neuen Geschlecht leben, doch selbst mit Transition gelingt es nicht. Darum entschließen sie sich, doch wieder im ursprünglichen Geschlecht zu leben, weil das vielleicht einfacher ist.

Risiken von geschlechtsangleichenden OPs

Louis kostete das Verfahren, das er für die Brust-OP durchlaufen musste, viel Zeit und Nerven: „Eigentlich wollte ich nach dem Abi nach Afrika oder Südamerika. Dann habe ich entschieden, in Berlin zu bleiben, um die Therapie zu beenden. Das war ein Punkt, an dem ich gemerkt habe, dass ich durch die Transidentität aufgehalten werde, ein normales Leben zu führen.“

Später folgten weitere vier OPs, die Louis schließlich zum Mann machten. Jede birgt allerdings Risiken. Wenn etwa Nervenbahnen nicht richtig verknüpft werden, kann die Fähigkeit zum Orgasmus verloren gehen oder Inkon­tinenz auftreten. Extrem belastend und doch der einzige Weg für Louis. „Beim Erstellen eines Gesamtbehandlungsplans geht es vor allem darum, dass es den Menschen am Ende besser geht und sie ihr Geschlecht so leben können, wie es für sie richtig ist“, so Timo Nieder. Manche medizinische Risiken seien dann geringer als der Leidensdruck und das Risiko eines Suizids.

Elke S. wollte nie geschlechtsangleichende Operationen. Sie nimmt nur weibliche Hormone. Als transidente Frau ist sie wieder verheiratet. Sie lebt mit ihrer Ehefrau in einer erfüllten Partnerschaft – mit Nähe und Sexualität. Auch Louis ist liiert. Seine Freundin hat ihn ein großes Stück seiner Transition begleitet. Sie kennt ­all seine Facetten. Facetten, wie wir sie alle haben. Die wir nicht jedem zeigen. Facetten, die transidente Menschen aber immer noch offenbaren müssen, um sie selbst sein zu können.


Quellen:

  • Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V. (dgti): Zahlenspiele. Online: https://dgti.org/... (Abgerufen am 18.10.2023)
  • Bundesamt für Justiz: Zusammenstellung der Geschäftsübersichten der Amtsgerichte für die Jahre 1995 bis 2021. Online: https://www.bundesjustizamt.de/... (Abgerufen am 18.10.2023)
  • Bundesministerium der Justiz: Gesetz über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen, (Transsexuellengesetz - TSG). Online: https://www.gesetze-im-internet.de/... (Abgerufen am 18.10.2023)
  • Koalitionsvertrag der Ampelkoalition (hier Seite 64): https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf

  • Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag (SBGG), Häufig gesetellte Fragen. Online: https://www.bmfsfj.de/... (Abgerufen am 18.10.2023)
  • Lesben- und Schwulenverband: DAS SELBSTBESTIMMUNGSGESETZ, ANTWORTEN ZUR ABSCHAFFUNG DES TRANSSEXUELLENGESETZ (TSG). Online: https://www.lsvd.de/... (Abgerufen am 18.10.2023)
  • Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Entwurf eines Gesetzes über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag und zur Änderung weiterer Vorschriften. Online: https://www.bmfsfj.de/... (Abgerufen am 18.10.2023)
  • Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V. (dgti): Pressemitteilung der dgti e.V. zum Selbstbestimmungsgesetz (SBGG) zum Kabinettsbeschluss vom 23.08.2023. Online: https://dgti.org/... (Abgerufen am 18.10.2023)
  • Hall R, Mitchell L, Sachdeva J: Access to care and frequency of detransition among a cohort discharged by a UK national adult gender identity clinic, retrospective case-note review. In: BJPsych Open 01.10.2021, 7-6: 184