Logo der Apotheken Umschau

An seine erste Sensorikstunde erinnert Guido Ritter sich noch gut: „Wir mussten durch den Hof gehen, mit einem Glas Wasser, und schlürfen und spucken üben.“ Guido Ritter ist Experte für Lebensmittelsensorik – und als solcher ist es seine Aufgabe, Lebensmittel zu verkosten und kritisch zu bewerten. Das verlangt gut trainierte Sinne.

Und die richtige Technik: Wer ein wenig Luft ansaugt beim Essen, also ordentlich schmatzt und schlürft, schmeckt intensiver. „Leider hat sich das Schmatzen bei uns durch Benimmregeln irgendwann verboten“, bedauert Ritter. „Umso wichtiger ist gründliches Kauen.“ Das gehört zu den Grundregeln, die er heute als Professor an der Fachhochschule Münster an seine Studierenden weitergibt.

Mahlzeiten langsam und bewusst genießen

Im Alltag scheint Kauen etwas in Vergessenheit geraten zu sein. Essen muss heute oft schnell gehen. Und nebenbei passieren. Wir tun es, während wir E-Mails checken oder im Fernsehen die Nachrichten verfolgen. Mit Genuss hat das wenig zu tun, oft können wir danach nicht einmal sagen, wie es geschmeckt hat. Richtig satt macht gedankenloses Schlingen auch nicht. Mitunter geht es sogar auf Magen und Darm, die mit einem Drücken oder Völlegefühl reagieren.

Es hat einen guten Grund, warum die Deutsche Gesellschaft für Ernährung in ihren Empfehlungen dazu rät, „langsam und bewusst zu essen und Mahlzeiten zu genießen“. Und das, so viel steht fest, fängt mit richtigem Kauen an.

Kauen gibt Geschmacksstoffe frei

Guido Ritter erklärt, was beim Kauen passiert: Der Mund sei der „Genussraum“. Kauen sei so wichtig, „weil wir tatsächlich nur die Bruchstücke der Nahrung wirklich wahrnehmen können“. Erst die zerkleinerte Nahrung gibt die Geschmacksstoffe frei, die unsere Fühler für süß, sauer, salzig, ­bitter und das würzige Umami reizen.

Leider haben wir durch die vielen verarbeiteten Lebensmittel, die wir heute essen, ein bisschen verlernt, intensiv zu kauen

Ebenso die flüchtigen Aromen, die uns in die Nase steigen. Riechen kann der Mensch nämlich nicht nur über die eingeatmete Luft, sondern auch, wenn Geruchsstoffe über den Rachenraum zu den Riechzellen der Nasenschleimhaut aufsteigen. Erst dann wird der Sinneseindruck, den wir „Geschmack“ nennen, komplett. Außerdem ist im Speichel das Verdauungsenzym Amylase enthalten. Es spaltet von geschmackloser Stärke süßen Zucker ab. Deshalb schmeckt Brot mit der Zeit süß.

Kauen kann man trainieren

1. Wählen Sie unverarbeitete, harte Lebensmittel.

2. Setzen Sie sich zum Essen.

3. Nehmen Sie einen kleinen Bissen.

4. Kauen Sie bewusst und gründlich.

5. Nehmen Sie wahr, was Sie schmecken.

6. Schlucken Sie nur, was flüssig oder breiig ist, den Rest weiterkauen.

7. Nach kurzer Pause kommt der nächste Bissen.

8. Genießen Sie Ihr Essen!

So kommen beim Kauen nach und nach immer neue Sinneseindrücke dazu. „Wer wenig kaut, dem entgeht das alles“, sagt Guido Ritter. Und fügt bedauernd hinzu: „Leider haben wir durch die vielen verarbeiteten Lebensmittel, die wir heute essen, ein bisschen verlernt, intensiv zu kauen.“ Denn industriell verarbeitete Produkte sind oft weich und lassen sich ohne viel Kauen schnell schlucken – „Fast Food“ eben. Vor allem für Menschen mit Gewichtsproblemen ist das fatal, denn es verführt dazu, mehr zu essen.

Bewusstes Kauen stärkt das Sättigungsgefühl

Isabel Rübsamen arbeitet mit mehrgewichtigen Menschen und kann bestätigen, wie wichtig das Kauen fürs Abnehmen ist. Die Ökotrophologin ist selbstständige Ernährungsberaterin im rheinland-pfälzischen Winden. Sie sagt: „Jahrelang haben wir beim Abnehmen vor allem darauf geachtet, was wir essen. Dabei ist das Wie mindestens genauso wichtig.“

In der Beratung trifft sie oft auf „Menschen, die kein richtiges Gespür mehr dafür haben, wann sie hungrig und wann sie satt sind“. Mit ihnen macht sie gern diese Übung: Alle nehmen ein Stück Möhre in den Mund, beginnen zu kauen und spüren nach. Wie fühlt sich das im Mund an? Wann ist die Möhre stückig? Wann Mus? In welchem Stadium hat man sie geschluckt? „Viele finden dieses Experiment schräg, aber bewusstes Kauen trainiert auch die Wahrnehmung dafür, wann man satt ist“, so Rübsamen.

Von Vorgaben wie 30-mal zu kauen, hält sie nichts – zu kompliziert. Ihr Tipp: erst schlucken, wenn die Nahrung Brei ist. Wer das schafft, bremst automatisch sein Esstempo. Und das ist gut: Denn bis unser Körper „satt“ meldet, vergehen etwa 20 Minuten. Essen setzt eine Reihe von Reaktionen in Gang: Der Magen dehnt sich, die Bauchspeicheldrüse beginnt, Insulin auszuschütten, der Darm setzt Sättigungshormone frei.

Alle diese Signale wirken auf das Gehirn. Ist jedes davon ausreichend stark, fühlen wir uns satt. Wer dagegen wenig kaut und sehr schnell isst, hat den Sättigungspunkt womöglich schon überschritten, bevor der Körper melden konnte „es reicht“.

Vielen ist nicht klar, dass Kauen so elementar wichtig ist

Gründliches Kauen schont Magen und Darm

Vom gründlichen Kauen profitieren auch Magen und Darm, weiß Birgit Terjung. Sie ist Ärztliche Direktorin der GFO Kliniken Bonn und auf Magen-Darm-Erkrankungen und Ernährung spezialisiert. „Vielen ist nicht klar, dass Kauen so elementar wichtig ist“, sagt sie.

Die Zähne zermahlen den Bissen und die Enzyme des Speichels kommen besser ran, um die Verdauung zu starten. Durch das Einspeicheln wird das Essen gleitfähig, lässt sich leichter schlucken. „Wer größere Nahrungsbrocken schluckt, fordert Magen und Zwölffingerdarm umso mehr“, so Terjung. Das spürt man: „Nicht selten als verstärktes und verlängertes Völlegefühl im Magen oder Oberbauch. Oder es bilden sich vermehrt Luft und unangenehme Blähungen mit Oberbauchbeschwerden.“

Reflux

Stiller Reflux: Magensaft im Rachen

Der Rückfluss von Magensaft kann nicht nur die Speiseröhre schädigen, sondern auch Probleme im Rachen- oder Nasen-Bereich hervorrufen. zum Artikel

Besonders Patientinnen und Patienten mit Reflux, also einem Rückfluss von saurem Magensaft in die Speiseröhre, oder einer Magenschleimhautentzündung legt die Ärztin nahe, gründlich zu kauen: „Ist die Nahrung schlecht zerkleinert, muss der Magen mehr Verdauungssäfte produzieren. Das reizt Speiseröhre und Magen zusätzlich.“ Außerdem sei es geradezu Verschwendung, schlecht zu kauen, ergänzt Terjung. Denn wer in der Toilettenschüssel die Sonnenblumenkerne vom Frühstücksbrötchen entdeckt, spült die guten Nährstoffe ungenutzt im Klo herunter.

Kauen schützt die Zähne

Auch Zahnärztinnen und -ärzte, die sich von Berufs wegen mit dem Kauapparat beschäftigen, plädieren dafür, länger und besser zu kauen. Intensives Kauen sei wie „Gymnastik für das Zahnbett“, schreibt zum Beispiel die Bundeszahnärztekammer in ihren Informationen für Patientinnen und Patienten. Zudem fließe dadurch mehr Speichel, der die Zähne schützt, indem er schädliche Säuren im Mund neutralisiert.

Gründlich zu kauen hat also nur Vorteile: Wer es tut, hat mehr vom Essen, kann die Essmenge besser kontrollieren, überfordert Magen und Darm nicht und tut den Zähnen Gutes. Sie können sich nicht vorstellen, das zu schaffen? Dann nehmen Sie sich kurz Zeit für die nachfolgende Übung. Gutes Kauen muss nicht zum Dogma werden, findet Isabel Rübsamen. Aber sich immer wieder darauf zu besinnen, wäre gut.


Quellen: