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Einmal im Quartett um das Nordkap schippern, das war der Traum der beiden befreundeten Paare aus dem unterfränkischen Altershausen. Doch vor zwei Jahren zerschlugen sich alle Reisepläne. Der Freund von Margit und Werner Steigmeier erkrankte schwer. Er wurde pflegebedürftig und kommt inzwischen nur noch mit Hilfe aus dem Bett und mit Rollstuhl aus dem Haus. „Es tut schon weh, das zu sehen“, sagt die 69-jährige Steigmeier. Aber für sie war klar: „Wenn man Freunde hat, soll man in der Not für sie da sein.“

Heute hilft Margit Steigmeier, wo sie kann. Sie kümmert sich mit ihrem Mann um den Kranken, wenn die Freundin mal länger außer Haus ist, kann ihn zur Not auch mit geschickten Griffen in den Rollstuhl setzen. Sie hat früher als Pflegehelferin gearbeitet. Sie hat ein offenes Ohr für die Sorgen der Freundin, nimmt sie zum Schwimmen oder zum Einkaufen mit, „damit sie auf andere Gedanken kommt“. Großes Aufheben mag die Rentnerin davon nicht machen: „Helfen liegt mir im Blut.“

Unterschätzte Helfer

Der Einsatz von Menschen wie Margit Steigmeier taucht in keiner offiziellen Statistik auf. Selbst wer die Verantwortung für die Pflege eines Freundes oder Nachbarn übernimmt, wird in den Zahlen der Pflegeversicherung nicht eigens erfasst. Die Kassen sortieren die sogenannten privaten Hauptpflegepersonen nicht nach der Art der Beziehung zum Pflegebedürftigen.

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Studien aus den vergangenen Jahren lassen jedoch erahnen, wie groß der Beitrag von Menschen außerhalb der Familie für die Pflege und Unterstützung zu Hause ist. Etwa die Pflegestudie des Sozialverbands VdK von Mai 2023. Demnach stellen Angehörige, allen voran die Partner, nach wie vor die große Mehrheit in der Laien­pflege. Aber gut sechs Prozent der Hauptpflege­personen sind hierzulande gemäß der VdK-Studie Freunde oder Nachbarn. Das entspricht etwa 300 000 Menschen. In einer Studie von 2017 lag die Quote noch bei drei Prozent. Besonders rührig scheinen die Helfer aus dem nahen Umfeld als zusätzliche Stütze zu sein: Jeder vierte Pflegebedürftige gab in der VdK-Untersuchung an, Hilfe von Freunden zu erhalten, jeder zehnte auch von Nachbarn.

Unterstützung durch Nachbarn gestiegen

Besonders die Nachbarschaftshilfe erlebte in der ersten Phase der Corona-Pandemie einen Aufschwung. So hat sich der Anteil derjenigen, die sich um alte oder kranke Nachbarn kümmern, für kurze Zeit mehr als verdoppelt, berichtet das Deutsche Zentrum für Altersfragen. Das ist wohl auch eine Antwort auf das Wegbrechen von Angeboten wie der Tagespflege in jener Zeit. „Da haben wir gemerkt, wie wichtig die Nachbarschaftshilfe ist – und dass sie oft auch funktioniert“, sagt die Wiener Pflegewissenschaftlerin Dr. ­Paulina Wosko, die sich mit der Rolle des ­sozialen Umfelds im Alter beschäftigt. „Man hat mehr nach links und rechts gesehen: Wie geht es eigentlich dem Nachbarn?“

Auch die Professorin Christa Büker geht davon aus, dass die Unterstützung durch Freunde und Nachbarn bald noch gefragter sein wird. „Wir haben zunehmend Menschen in Single­haushalten und mehr Menschen, die kinderlos sind oder auch sonst keine Angehörigen haben, die sich kümmern könnten“, sagt die Pflege­wissenschaftlerin von der Hochschule Bielefeld. Gut jeder Dritte ab 65 in Deutschland lebt heute allein. Bei den ab 85-Jährigen, die am häufigsten auf Pflege angewiesen sind, ist es mehr als jeder Zweite. Expertin Büker bedauert, dass die Gruppe der Pflegebedürftigen ohne Familien­anschluss bislang wenig in den Blick genommen wird. Die Politik gehe wie selbstverständlich davon aus, Angehörige würden die Pflege zu Hause übernehmen. Was aber, wenn das gar nicht möglich ist?

So viel ist klar: Die Lücke können Freunde und Nachbarn meist nicht füllen. Aber im Verbund mit professionellen Helfern, etwa Pflegediensten, und gegebenenfalls Angehörigen können sie eine wertvolle Funktion einnehmen.

Welche Spielarten dabei möglich sind, hat Forscherin Wosko in Interviewstudien mit alleinlebenden älteren Menschen und helfenden Freunden und Nachbarn beleuchtet. Die Bandbreite ist groß: Einkäufe erledigen, zum Arzt begleiten, Hilfe bei Bankangelegenheiten, gemeinsame Theaterbesuche, aber auch einfach nur Gespräche. „Ein gemeinsames Kaffeetrinken kann von wahnsinnig hohem Wert sein“, berichtet Wosko. „Dieses Gefühl ‚Du bist nicht allein‘ gibt einer alleinlebenden älteren Person eine unfassbare Energie, weiterzuleben.“ Das könne entscheidend dazu beitragen, dass Senioren weiter zu Hause bleiben können, hat die Pflegewissenschaftlerin bei ihren Studienteilnehmern beobachtet. „Allein mit mobilen Diensten wäre das nicht gelungen.“

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Überforderung vermeiden

In puncto Beziehung kann es einen großen Unterschied machen, ob sich Angehörige kümmern oder Menschen außerhalb der Familie. „Freunde bringen eine enge emotionale Bindung zum Betroffenen mit, man möchte einfach helfen. Es schwingt weniger so ein Verpflichtungsgefühl mit wie bei manchen Angehörigen“, weiß Pflegeprofessorin Christa Büker. Bei Nachbarn ergibt sich mitunter erst durch die Pflegesituation ein engerer Kontakt: von der Nachbarin zur Freundin über den Umweg der Fürsorge – auch das gibt es.

Doch der Einsatz von Freunden und Nachbarn birgt auch Fallstricke. Christa Büker: „Immer, wenn ich mich um eine hilfebedürftige Person kümmere, besteht die Gefahr der Überforderung.“ Das gelte nicht nur für Angehörige. Um der Gefahr zu begegnen, sollte man sich vor allem eine Frage stellen: „Wo sind meine Grenzen?“

Gabriele Tammen-Parr leitete mehr als 20 Jahre die Berliner Beratungsstelle „Pflege in Not“ und kennt die kritischen Punkte aus vielen Gesprächen mit Ratsuchenden: „Wie viel Nähe traue ich mir zu? Ist die Hilfe bei Schreibarbeiten und Behördengängen für mich genau das Richtige oder kann die Nähe bis in die Wohnung, zum Kochen und Putzen gehen, vielleicht auch bis auf die Toilette?“ Und auch wenn man selbst vielleicht kein Problem damit hat, bei der langjährigen Freundin fix die Inkontinenzeinlage zu wechseln: Möchte es die Betroffene auch?

Engagement mit Grenzen

Zumal der Hilfebedarf mit der Zeit meist wächst. „Man muss zwischendurch immer mal wieder innehalten“, rät Tammen-Parr, „und gemeinsam besprechen: Wollen und können wir beide das noch?“ Das ist auch ein guter Anlass, um zu klären, wie es weitergehen könnte: Wäre es eine Möglichkeit, einen ambulanten Pflegedienst mit ins Boot zu holen? Das Schlimmste sei, „sich wortlos zu überfordern“ – und am Ende die Freundschaft zu gefährden, meint die Fachfrau, die sich heute im Selbsthilfeverband „wir pflegen“ ­engagiert.

Die Grenzen „offen auszuhandeln“ sei so etwas wie ein Erfolgsrezept für die Hilfe unter Freunden und Nachbarn, bestätigt Paulina Wosko. Wo das gelinge, „klappt es hervorragend“, habe ihre Forschung gezeigt. Andernfalls könnten Verletzungen zurückbleiben. „Aber es soll doch mit positiven Gefühlen für beide Seiten verbunden sein.“

Traurige Realität ist: Nicht wenige Pflegebedürftige und auch Angehörige leiden unter Einsamkeit. Leicht lassen Krankheiten oder Gebrechlichkeit Freundeskreise kleiner werden, berichten Mitarbeitende von Pflegestützpunkten wie Heike Hambsch aus Bad Dürkheim. „Ich bin schon froh, wenn ich mitkriege, dass Freundschaften trotz der Pflege bestehen bleiben.“ Auch seien manche pflegebedürftige Menschen in einem Alter, in dem viele Freunde bereits verstorben sind.

Katja Virkus vom Senioren- und Pflegestützpunkt Calenberger Land ergänzt: „Viele Angehörige und Betroffene leiden darunter, dass man sie nicht mehr bei Unternehmungen oder Feiern einbezieht.“ Das sei wohl oft gut gemeint, weil die Freunde fürchteten, eine Einladung könne als Last empfunden werden. Virkus rät, wie in guten Tagen an die auf Pflege Angewiesenen zu denken – und ihnen die Entscheidung zu überlassen, ob sie kommen oder nicht.

Dialog mit der Familie

Auch ist das Verhältnis von Familie und helfenden Freunden oder Nachbarn nicht immer frei von Spannungen. So seien Angehörige, die weit weg wohnen, und Nachbarn, die sich vor Ort kümmern, mitunter nicht einer Meinung, was den Bedarf an Hilfe für den Betroffenen angeht, beobachtet Katja Virkus – da könnten nur offene Gespräche helfen, am besten zusammen mit der Pflegeberatung.

Gelegentlich begegnen Angehörige den tatkräftigen Nachbarn und Freunden mit Argwohn, hat Paulina Wosko erfahren: „Man kann sich nicht vorstellen, dass da jemand einfach so hilft, obwohl er nicht zur Familie gehört. Da wird auch schon mal Erbschleicherei unterstellt.“ Die Forscherin sieht darin einen Grund dafür, dass viele Helfende die Öffentlichkeit scheuten und Kümmerer im Stillen bleiben.

Bereicherung für beide Seiten

Wer helfe, tue dies oft mit dem Gedanken, dass man selbst ja auch froh wäre, wenn einem jemand im hohen Alter so beistehen würde – ein schöner Gedanke, wie Wosko findet. Viele Freunde und Nachbarn erlebten die Zeit der Unterstützung als große Bereicherung. „Es ist nicht nur ein Geben, es ist auch ein ganz großes Nehmen für einen selber.“

Tipps für pflegende Freunde und Nachbarn

In Verbindung bleiben

Gute Freunde von Ihnen oder deren Angehörige werden pflegebedürftig? Erfahrungsgemäß ist die ­Gefahr des Rückzugs groß – auf beiden Seiten. Oft auch aus Unsicherheit. Fragen Sie die betroffenen Freunde, was diese sich wünschen. Vielleicht lassen sich Unternehmungen ja so anpassen, dass alle dabei sein können?

Hilfsbereitschaft signalisieren

Als Nachbar fällt Ihnen auf, dass jemand im Alltag immer schlechter zurechtkommt? Suchen Sie ruhig das Gespräch, schildern Sie Ihren Eindruck. Sie möchten helfen? Überlegen Sie, was Sie realistisch anbieten können. Akzeptieren Sie es, wenn man Ihr Angebot ablehnt. Oft brauchen Betroffene Zeit.

Aufmerksam sein

Der Briefkasten Ihres Nachbarn quillt über? Dann ist er vielleicht auf Reisen – oder es stimmt ­etwas nicht. Gerade bei hochbetagten ­Mitbewohnern sollten Sie auf Warnzeichen achten: Bleiben die Vorhänge tagsüber geschlossen? Gute Idee: Mit dem älteren Nachbarn ein Signal vereinbaren. Etwa: Die Zeitung liegt mittags nicht mehr vor der Tür? Dann ist alles in Ordnung!

Sich als Helfer anerkennen lassen

Mit Pflegegrad steht Betroffenen ein Entlastungsbetrag von 125 Euro monatlich zu. Gedacht ist das Geld vor allem für Hilfen im Alltag wie Einkaufen, Spaziergänge oder Begleitung zum Arzt.Der Pflegebedürftige kann Ihren Einsatz als Freund oder Nachbar mit diesem Geld honorieren – vorausgesetzt, Sie lassen sich als Nachbarschaftshelfer zertifizieren. Dies ist mittlerweile in den meisten Bundesländern möglich. Erkundigen Sie sich bei der Pflegeberatung.

Engpässe überbrücken

Ihr Freund oder Nachbar pflegt einen Angehörigen und muss außer Haus oder auch länger weg? Sie ­können die Pflege zeitweilig übernehmen – als „Verhinderungspflege“. Die Pflegekasse stellt dafür ein eigenes Budget bereit, mit dem Sie der Pflegebedürftige bezahlen kann.

Pflege übernehmen

Jeder kann im Sinne der Pflegekasse ehrenamtlich pflegen – neben Angehörigen können also auch Freunde oder Nachbarn Pflegeperson sein. Als Pflegeperson haben Sie unter bestimmten Voraussetzungen Anspruch auf Rentenbeitragszahlungen (Pflegekasse fragen). Auch stehen Ihnen Pflegekurse und bei Bedarf Reha zu (ab 1.1.2024 für alle Pflegepersonen).

So empfindet es auch Margit Huber*, die in einem Dorf im oberbayerischen Landkreis Miesbach lebt. Seit Jahren kümmert sie sich um eine gebrechliche Dame im Ort. ­Begonnen hatte alles mit einer flüchtigen Bekanntschaft – man saß ­gemeinsam in einem ehrenamtlichen Arbeitskreis der Gemeinde. „Sie war mir gleich sympathisch“, erinnert sich Huber, „so eine gebildete, offene Frau.“ Über Jahre blieb der Kontakt zwischen beiden locker.

Dann verlor die Dame ihren Mann, die inzwischen über 80-Jährige baute körperlich rasch ab. Margit Huber, heute 64, begann, sich zu kümmern. Wenn sie zum Markt in die zehn ­Kilometer entfernte Kreisstadt fährt, hat sie den Einkaufszettel der Bekannten dabei. Besucht sie mit dem Auto ein Klassikkonzert im großen München, kommt die musikliebende Seniorin mitsamt Gehstöcken mit. Hat diese einen Arzttermin, leistet Margit Huber bei Bedarf Fahrdienst. „Ich bin keine Mutter Teresa“, stellt sie klar – mit guten Gesprächen und ihrer lebensklugen Weisheit gebe ihr die ältere Dame viel zurück. „Über die Hilfe ist
eine Freundschaft entstanden.“

*Name von der Redaktion geändert

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Quellen: